Ein Schwerpunktthema des Münchner Comicfestivals war der Themenkomplex „Comics aus Taiwan“. Hier standen vor allem die Künstler des umtriebigen Chinabooks-Verlags im Fokus, denen je eine kleine Werkschau gewidmet wurde, darunter auch der jungen Künstlerin 61chi. Während die meisten Teilnehmer des Festivals ihren Namen wie selbstverständlich auf Englisch aussprachen („Sixtyone-chi“), ist ihr Name in Wirklichkeit weniger sperrig, als es zunächst den Anschein hat. Das chinesische Wort für die Zahl 61 lautet „liù shí yī“ und ist lautgleich zu ihrem tatsächlichen Namen, entsprechend wird ihr Name „LiuChi“ gesprochen.
Kürzlich erschien mit der Kurzgeschichte Das Mädchen und der Traumfressertapir zum ersten Mal eine Geschichte von 61chi in deutscher Sprache. Es geht darin um eine Schülerin, die von ihren Mitschülern gemobbt wird und sich deshalb in dunkle Fantasien und eine Todessehnsucht hineinträumt. Nachts erscheint dem Mädchen ein fabelhaftes Tierwesen, ein Traumfressertapir, der sich von den Träumen des Mädchens ernährt. Solche Tapire sind in der chinesischen Kultur ein bekanntes Motiv, doch lässt sich die Geschichte auch verstehen, wenn man den Tapir als „Imaginary Friend“ des Mädchens akzeptiert. Ein kultureller Background ist zum Verständnis nicht nötig. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, dass der Tapir mit dem Mädchen einen Dialog beginnt, da ihre Träume bitter sind und überhaupt nicht schmecken.
Ich habe Das Mädchen und der Traumfressertapir zum Anlass genommen, um mit 61chi ins Gespräch zu kommen.
Comicgate: Würden Sie sagen, dass Der Traumfressertapir ein repräsentativer Teil Ihres Comicschaffens ist?
61chi: Meinen Sie damit die Malweise oder die Geschichte? Denn die Geschichte ist ja nicht von mir, von mir sind nur die Bilder.
Ich meine zunächst mal tatsächlich die Malweise.
Der traumfressende Tapir ist eine Arbeit, die in einer Jugendzeitschrift erscheinen sollte. Wegen dieser sehr eindeutigen Zielgruppe hatte ich überlegt, welchen Stil ich wähle. Ich bin eine Person, die gerne experimentiert. Es gibt für mich nicht einen Stil, der feststeht und sich in allen Arbeiten wiederholt. Jedes Mal fange ich neu an, stilistische Überlegungen zu machen, die auch dem Inhalt Rechnung tragen sollen. Also habe ich damals zunächst überlegt, ob ich mir für dieses Buch nicht eine Form des japanischen Mangastils aneignen sollte, weil den die taiwanesischen Jugendlichen am ehesten mit Comicbüchern verbinden.
Aber dann dachte ich: Nein, ich bin keine Mangazeichnerin. Ich habe meinen Stil, aber ich passe ihn dem an, von dem ich glaube, dass es Jugendlichen gefällt. Und so habe ich eine Strichlinienführung gewählt, die Manga-Elemente berücksichtigt, sich davon aber nicht dominieren lässt. Deswegen kann man auch nicht sagen, der Stil sei charakteristisch für mein Oeuvre. Jedes Werk wird von Grund auf neu überlegt und konzipiert. Trotzdem gibt es natürlich Charakteristisches, das meine Follower erkennen können. Sie erkennen mich in allen meinen Comics.
Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass ihr Stil sehr global ist. Der Stil könnte ebenso von einem amerikanischen Independent-Künstler sein, und ähnliche Stile finden sich auch bei deutschen Künstlern. Aber bleiben wir noch mal bei Der Traumfressertapir: Obwohl das Skript von einer anderen Autorin ist, so erscheint mir das Thema doch auch für Sie charakteristisch zu sein. Ihr Interview im Manhua-Magazin lässt immerhin darauf schließen, dass Mobbing – oder Bullying – an Schulen für Sie ein großes Thema ist.
Das Thema ist nicht zufällig. Ich habe mit der Autorin Shen Xiaofeng [auch bekannt als Goodwind Hsu] zusammen überlegt, was für Jugendliche ein interessantes Thema sein könnte. Und dann haben wir uns aus der Diskussion heraus entschieden: Das soll das Thema sein. Und dann haben wir die Geschichte überlegt.
Ich habe eben gerade Ihren neuen Stadtcomic durchgeblättert, von dem auch einzelne Seiten in der Ausstellung zu sehen sind. Das sind jeweils einseitige Kurzcomics unter dem Motto „Sometimes in the city …“. Es geht in den Geschichten unter anderem darum, wie man sich auch unter Menschen allein fühlen kann. Sind sie denn selbst ein Stadtmensch?
Nein. Alle meine Arbeiten beschäftigen sich mit dem Thema, in die Stadt zu kommen und dann darin zu leben. Und es geht nicht um irgendeine Stadt, sondern immer um die Hauptstadt Taipeh. Es geht um Menschen, die nicht dort geboren sind, sondern aus kleineren Städten kommen. Ich selbst komme aus einer kleinen Stadt im Süden. Ich bin nach Taipeh umgezogen, weil Taipeh das kulturelle Zentrum von Taiwan ist. Wenn man am Puls der Zeit sein will, muss man nach Taipeh. In Taipeh trifft sich die Welt von Taiwan.
Aber ich fühle mich dort fremd, weil ich dort nicht geboren bin. Ich denke sehr oft an den Ort, von dem ich herkomme, an die Familienbande, an die Freunde, an das ganz andere Leben. Zwischen meinem gegenwärtigen Lebensumfeld und dem Umfeld meiner Kindheit gibt es Spannungen. Deswegen habe ich eine Distanz zu Taipeh und dem Leben in der Stadt. Meine Freunde, die in Taipeh großgeworden sind, die lesen sich meine Bücher nicht durch, aber die vielen Zugezogenen machen ähnliche Erfahrungen und finden sich in meinen Büchern auch wieder.
Sie haben doch auch mal längere Zeit in Frankreich gewohnt?
Ich war drei Monate als „Resident Artist“ in Angoulême.
Ist Angoulême sehr ländlich?
Das ist eine kleine Stadt.
Gab es dort ein ähnliches Gefühl der Fremdheit?
Dieses Gefühl der Entfremdung, welches ich in der Millionenstadt Taipeh hatte, habe ich dort nicht empfunden.
Lebten Sie dort in einer Blase von Künstlern?
Ja. Ich war in einem Ort, wo Illustratoren, Zeichentrickfilmer und Comiczeichner zusammen waren. Das war eine ganz spezielle Welt. Aber die Stadt hat mir das Gefühl gegeben, dass ich mich dort wohlfühlen könnte. Ich war natürlich in diesem „Artists Residence“-Viertel, aber ich habe in der Stadt eingekauft, ich bin in Restaurants gegangen, ich fühlte mich einfach gut aufgehoben. Ich bin dann wenige Tage später auch mal nach Bordeaux, die nächste große Stadt in der Nähe. Das ist jetzt keine Weltstadt, aber sofort stellte sich wieder ein unbehagliches Gefühl ein. Das Leben dort ist ein Leben, das nicht mein Leben ist. Es ist diese Spannung zwischen Kleinstadt, Großstadt und Weltstadt, die je unterschiedliche Lebensformen beinhalten. Da habe ich meine Probleme.
Wie schätzen Sie München ein?
Ich fühle mich hier wohl. (lacht)
Auf dem Festival? Oder haben Sie die Stadt auch schon gesehen?
Ich war nur ganz flüchtig im Stadtzentrum. Aber hier [Schwanthaler Höhe] kenne ich das Umfeld ein bisschen und auch das Kongresszentrum. Also für mich ist diese Kongresshalle winzig. Sehr nett. Eine schöne kleine Sache.
Gibt es viel Kontakt zu deutschen Künstlern?
Gar nicht. Unser Verleger hat keine Kontakte mit deutschen Künstlern organisiert. Und wie soll ich selbst etwas organisieren? Ich muss ständig signieren, Interviews geben, dies und das. (lacht) Aber ich fühle mich hier wohl. Darum geht’s ja. Waren Sie mal in Taipeh gewesen? Das ist gigantisch. Hochhäuser ohne Ende. Hier in München haben die Leute Zeit, mit dem Fahrrad zur Arbeit zur Arbeit zu fahren. Im Anzug! In Taipeh wäre das undenkbar. Da geht alles zack, zack, zack. Die Verkehrssituation ist immer ein Zeichen für das Rhythmusgefühl und das Tempo einer Stadt. Hier geht alles so langsam und ruhig vonstatten. In Taipeh sind alle immer am pushen, am Drängen. Vor, vor, vor. Hier ist das ganz anders.
Arbeiten Sie als Künstlerin in Taipeh auch unter diesem Druck? Oder ist das eher der Druck, den Sie bei Ihren Mitmenschen beobachten, während Sie eine eher angenehme Position im Leben haben?
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, dass ich, ob ich es will oder nicht, unter dem Einfluss dieses rasanten Tempos leide und dass ich mich davon gar nicht isolieren kann: Ich habe meine Mutter besucht, nachdem ich eine Zeitlang in Taipeh gelebt hatte. Wir gingen im Park spazieren und meine Mutter hat gesagt, „He, was ist denn mit dir los? Ras mal nicht so. Wir machen doch einen Spaziergang.“ Ich konnte gar nicht mehr anders als schnell gehen. Das ist jetzt in mir drin. Ich lebe in Taipeh. Und das ist auch richtig, denn dort sind die Verlage und dort habe ich meine Kontakte. Für meine berufliche Zukunft muss ich in Taipeh präsent sein. Aber ich fühle mich dort nicht wohl. Das Schlimme ist, wenn ich jetzt in meine Heimat zurückkehre, bin ich da auch nicht mehr zu Hause.
Ihr Zeichenstil ist sehr unruhig und spontan.
Stimmt. Ich arbeite schnell und sehr spontan. Das liegt darin begründet, dass ich nicht mit dem Kopf zeichne, sondern mit der Hand und ich es der Hand auch überlasse.
Ist das Ihr persönlicher Stil oder ist das so eine Art Mode in Taipeh? Arbeiten viel Künstler so?
Das ist meine eigene Sache. Viele machen Vorzeichnungen. Sie arbeiten sehr fein. Sie überarbeiten die Zeichnungen. Auch bei mir steht nicht jede Zeichnung im ersten Wurf schon da, aber ich mache keine Vorstudien. Entweder es ist gelungen oder nicht.
Reparieren Sie Ihre Zeichnungen? Wenn Sie jetzt eine Seite mit neun Panels haben und das letzte ist schlecht, kleben Sie dann was drüber?
Ich arbeite am PC nach. Das ist ganz normal. Dort ordne ich, arrangiere ich, mache Anpassungen.
Gibt es Originalzeichnungen?
Ja. Im Moment sind 80 bis 90% meiner Zeichnungen von Hand. In digitaler Form arbeite ich nur nach. Auch der Farbauftrag findet am PC statt. Der PC ist ein hilfreiches Werkzeug. Das Bild soll am Ende aber nicht aussehen, als wäre es am PC gefertigt worden.
Wie kann man sich die Umsätze der Bücher in Taiwan vorstellen? Sind das große Auflagen? Oder handelt es sich eher um kleine Independent-Produktionen?
Das Buch Room hatte eine Auflage von 3000, später gab es eine zweite Auflage mit noch einmal 2000 Exemplaren. Aktuell, bei Sometimes in the city, sind es 2000. Also keine sehr hohe Auflage. Das liegt an der Marktsituation. In den letzten Jahren gucken sich immer weniger Leute Bücher an. Es gibt einfach zu viele andere Möglichkeiten. Die Menschen spielen Computer, gucken Filme auf Netflix …
Aber trifft das nicht eher auf den Mainstream zu?
Es gibt allgemein und in allen Bereichen Abstriche und weniger Interesse.
Gibt es in Taiwan viele Lizenzproduktionen aus Amerika? Marvel-Comics? Superman? Batman?
Kaum. Wir importieren vor allem Manga aus Japan. Aber es gibt eine taiwanesische Comicbewegung von individuellen Independent-Künstlern, die mehr und mehr Beachtung finden. Natürlich ist das eine Nische, aber eine Nische, die geschätzt und gepflegt wird. Der Haupt-Mainstream wird aber vom japanischen Manga dominiert.
Aber die Marvel-Filme im Kino sind in Taiwan doch sicher erfolgreich, oder?
Ja, sicher. Filme wie Avengers sind auf den Rankings immer ganz weit vorne. Sie sind super beliebt. Mich interessiert das aber überhaupt nicht.