„Dieser Comic“, so heißt es im Klappentext von Oken, der vorliegenden neuen Veröffentlichung bei Chinabooks, „ist eine Adaption des autobiografischen Werks Sturm in den Bergen, Regen über dem Meer des Dichters Yang Mu“.
Immer wieder interessant, mit welchen Werken der Chinabooks-Verlag seine Nische bedient. Unter anderem finden sich im bisherigen Verlagsoeuvre gleich mehrere Manhwa-Reihen über historische Epochen, durchaus facettenreich, manchmal distanziert in ausdruckstarker Ästhetisierung (Die Helden der östlichen Zhou-Zeit), manchmal packend modern (Die Klingen der Wächter). Mit Dao–Der Weg entführte man uns ins Reich chinesischer Sagen und Geistergeschichten, mit der Serie Die Fundamente der chinesischen Zivilisation lernen wir chinesische Geschichte, und immer wieder schwingt das bange Gefühl mit: Handelt es sich bei all dem hier um eine chinesische Charmeoffensive? Timur Vermes hat in seiner eigenen Kurzkritik zu Dao-Der Weg schon mal auf seine unvergleichliche Art attestiert, dass er „politische Unabhängigkeit mal eher nicht“ vermutet.
Dabei geht es in Klingen der Wächter um nicht weniger als den Aufstand gegen ein unterdrückerisches China der Ära um 600 nach Christus, was mit etwas Fantasie durchaus auf die Gegenwart bezogen, gewinnbringend mit aktueller Linse gelesen werden kann. Aber gut, chinesische Geschichte wird auch von der kommunistischen Partei als Abfolge von Tyranneien gesehen, der es ein Ende zu setzen gilt. Es gibt auch Der freie Vogel fliegt von Jidi und Ageng, das sich kritisch mit der chinesischen Leistungsgesellschaft auseinandersetzt und die Liebe chinesischer Kids zur westlichen Kultur veranschaulicht. Sollen das alles Blendgranaten sein? Sind Jidis Mein Weg und die poetischen Bilderbücher Jimmy Liaos nur Eskapismus, der einlullen soll? Wie weit will man die Paranoia treiben? Über die Künstlerin STARember, von der die Reihe Heaven Official’s Blessing gestaltet ist, weiß man so gut wie nichts. Es gibt nur wenige bis keine Fotos, weil queere Inhalte in China, ein tragendes Motiv in Heaven Official’s Blessing, nur im Underground möglich sind. Das ist so lange unproblematisch, so lange etwas nicht zu berühmt wird und droht, zum nächsten Mainstream zu werden. Alles in allem ist es doch sehr bewundernswert, wie es dem Verlag gelingt, mit relativ wenigen Veröffentlichungen ein sehr facettenreiches Spektrum aufzufächern, das spannende Einblicke in die chinesische Alltagskultur bietet.

Alle Abbildungen (c) Chinabooks/Wu Shih-hung
Mit Wu Shih-hungs biografischem Comic Oken widmet man sich einmal mehr dem Thema Taiwan. Bei der Story, die als Einzelband in sich abgeschlossen ist, handelt es sich um die Jugenderinnerungen eines taiwanischen Künstlers, den bei uns wohl nur sehr eingeweihte Spezialisten kennen: Yang Mu. Immerhin wird er in der englischsprachigen Wikipedia als “one of the most accomplished poets writing in Chinese in the 20th and 21st century” bezeichnet, “known for his lyricism and linguistic ingenuity, modernising the Chinese diction and syntax while reviving a sublime style out of the idiom and imagery of Chinese and Western poetic traditions” (siehe Link). Ein deutschsprachiger Wikipedia-Eintrag findet sich nicht, es liegt vermutlich daran, dass Yang Mu sein erwachsenes Leben in den USA verbrachte und es dort zur Bekanntheit brachte.
Geben wir uns damit zufrieden, dass uns Wu Shih-hung auf stimmungsvolle Art und Weise die „Geburt eines Dichters“ nacherzählt, die Kindheit und Jugendjahre von Yang Mu, genannt Oken. Man kann diesen Comic zu den kontemplativen Comics zählen, denn ähnlich wie beispielsweise Taniguchis spazierender Mann oder immer wieder auch Geschichten von Cosey, beispielhaft in dessen Arbeiten Aminata und Saigon-Hanoi, legt Wu Shih-hung den Focus auf Natur- und Alltagsbeobachtungen, die sich erst allmählich zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen, wenn der junge Oken seine Eindrücke zu einer poetischen Sicht auf die Welt verarbeitet.
Parallel dazu erfahren wir dazu einiges über die Zeitumstände, unter denen Oken aufwächst: das Ende der Besatzung Taiwans mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Neuanfang unter einer chinesischen Exilregierung (Kuomintang), die den Kommunismus von Festland-China verachtet. Das macht das damalige Taiwan deshalb aber zu keinem freien Land. Unter der Herrschaft der Kuomintang, die große Angst vor dem Einsickern des Kommunismus nach Taiwan haben, bleiben Zensur und Repressalien bis in die 80er Jahre präsent, erst in den 80ern kommt es zur Demokratisierung.
Okens Einflüsse auf seine Kunst sind vielfältig: einerseits ist es die Abscheu vor der Brutalität der Soldaten sowie stetige Verwunderung über das irrationalen Verhalten der Erwachsenen, wenn sie beispielsweise die Kinder anfangs dazu zwingen, japanisch zu sprechen (vor 1945) und es ihnen später verbieten (nach 1945). Bald stellt sich dazu auch eine nie endende Vorliebe für Naturbeobachtungen ein und auch das Kunsthandwerk seiner Mitmenschen wird ihn tief inspirieren. Einen weiteren tiefen Eindruck hinterlässt das große Erdbeben von 1951, das ihm die Fragilität von Allem jäh vor Augen führt. Mit diesem Ereignis fügt sich die Künstlerwerdung Okens zumindest in diesem Comic zu einem vollständigen Bild.
Man glaubt es kaum, dass Wu Shih-hung ein Comicdebutant ist. Sein Aquarellstil erinnert an die Arbeiten des Amerikaners Scott Hampton, ist aber, was Comic-Mainstream angeht, doch eher ungewöhnlich. Das Wechselspiel zwischen langen, beinahe ereignislosen Passagen, und dann doch wieder Handlung, so dass wie beiläufig eine stringente und dichte Geschichte erzählt wird, zeugt von einem großen Verständnis für die Gattung und macht Oken zu einer erfreulichen Leseerfahrung. Man kommt nicht umhin, immer wieder auch sein eigenes Leben in den Erlebnissen Okens gespiegelt zu sehen, so dass sich ein tieferes Verständnis für den Künstler fast zwangsläufig einstellt.
Schönheit im Allerkleinsten

Chinabooks, 2025
Text und Zeichnungen: Wu Shih-hung, nach Motiven von Yang Mu
Übersetzung: Marc Hermann
208 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 29 Euro
ISBN: 978-3038870289