In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche sonst noch so zu Gemüte geführt hat.
Cristian: Das Thema der Woche ist natürlich der weiterhin drohende Grexit Daredevil, Netflix‘ neuster Straßenfeger (… wegen street-level-hero und so). Die Kritiker überschlagen sich, die Zuschauer gleich mit, da will ich die eine Stimme der Vernunft sein, tu‘ aber erst mal auf Appeasement: ja, Daredevil ist gelungen. Eine gute Show. Aber keine großartige. Weil großartige Shows uns etwas zeigen, was wir bisher so noch nicht kannten. Sei es die Story oder die Art wie sie erzählt wird — das Tempo, die Mittel, die Sprache, die Ästhetik — oder ihre Figuren, es gibt in Daredevil nichts, was man woanders nicht schon gesehen hätte. Und das teilweise radikaler oder einfach nur besser (sprich: interessanter) gemacht. Ich habe nun die ersten sechs Folgen gesehen und bin bereit, nach der dreizehnten noch einmal Resümee zu ziehen. Was für mich aber nach einer halben Staffel auf der Strecke bleibt, ist ganz klar die Charakterzeichnung. Den Figuren, bis auf Fisk, der von D’Onforio wirklich großartig dargestellt wird, fehlt es an Glaubwürdigkeit, an Tiefe, aber auch einfach an irgendwas. Es gibt keinen Grund, dem Leben dieser Leute zu folgen. Sie sind weder aus sich heraus interessante Persönlichkeiten (Fisk ausgenommen), noch sind ihre Motivationen oder irgend etwas, was sie sagen oder tun, außergewöhnlich. I just don’t care. Deswegen lässt sich trotzdem eine feine noir’sche Serie erzählen, in der starke Männer schwache Frauen beschützen (oder sich von ihnen verpflegen lassen) und in dunkeln Gassen über die Vorherrschaft im Revier boxen. Aber das ist halt so ganz nette Unterhaltung und nicht mehr.
Daniel: Wie müsste die perfekte Fernsehserie über Comic-Superhelden aussehen? Sie darf das Kostüm des Helden nicht in den Vordergrund stellen, sondern den Charakter, der darin steckt. Sie muss die Superheldenfähigkeit nicht als Selling Point verjubeln, sondern als integralen Bestandteil des filmischen Erlebnis umsetzen. Eine neue Serie wie The Flash versagt in allen von mir aufgestellten Anforderungen — kläglich. Ich möchte nicht jede Folge einen generischen Superbösewicht scheitern sehen, ich möchte Charakterentwicklung – ich möchte Daredevil. Und ich bekomme Daredevil. Von Netflix. Und das am gleichen Wochenende, an dem Game of Thrones leakt … äh … startet. Nach den ersten vier Folgen habe ich das rote Kostüm immer noch nicht gesehen, dafür vier mal den extrem atmosphärischen Vorspann. Ich habe Actionszenen gesehen, nach denen sich Bruce Lee die Finger schlecken würde und ich habe Wilson Fisk aka Kingpin (Vincent D’Onofrio) gesehen, der förmlich vibriert und dabei mehr Charakter zeigt als Matt Murdock (Charlie Cox). Im Moment ist mir egal, was Jon Snow macht, ich will sehen, wie Daredevil und der Kingpin aufeinandertreffen. Die Serie bringt mich dazu, meine alten Daredevil-Comics wieder aus dem Keller zu holen und zu lesen.
PS: Aber bitte Vorsicht, die Serie ist mindestens so brutal wie Game of Thrones.
Frauke: Ich hab einige Zeit gebraucht zu verstehen, warum ich so ein seltsames, unrundes Gefühl bei Daredevil hab. So ganz hab ich’s vielleicht immer noch nicht durchschaut, aber eins ist mir nun klar: Mir sind, wie Cristian, die Protagonisten irgendwas zwischen unsympathisch bis egal. Allen voran Matthew Murdocks Kanzleipartner Foggy Nelson, der für mich schwammig und langweilig daherkommt und zu gewollt auf anti Daredevil getrimmt ist. Von Karen Page bin ich enttäuscht; hab ich mich doch zuerst sehr gefreut, die von mir in True Blood sehr gemochte Deborah Ann Woll wiederzusehen. Aber ihre Figur nervt mit der Zeit immer mehr mit weinerlichem Tonfall und passiver Agressivität. Matt Murdock selber stehe ich neutral gegenüber, er bewegt mich nicht, bietet keinen emotionalen Anknüpfungspunkt. Die besseren Rollen haben die Schurken. Wilson Fisk und seine rechte Hand, Wesley, spielen exzellent und erhalten vom Autorenteam eine Tiefe, die den Protagonisten fehlt. Vielleicht sind sie auch einfach nur die besseren Schauspieler. Die Kampfszenen sind fantastisch: tolle Choreographie, unser Held darf ermüden und übelst zugerichtet sein, es fühlt sich alles authentisch und dreckig-echt an. Kevin Smith (unter anderem Autor einiger Daredevil-Comics) zeigte sich begeistert:
Dear @Netflix & @Marvel: The real-time, hidden-edit, RAID-like fight scene at the end of @Daredevil episode 2 is a breathtaking masterpiece.
— KevinSmith (@ThatKevinSmith) April 13, 2015
Der Stunt-Koordinator Philip Silvera (der übrigens auch für den kommenden Deadpool-Film arbeitet) reagierte prompt und bestätigt, dass die Szene, die oben in Daniels Beitrag verlinkt ist, in einem einzigen Lauf gedreht wurde:
@ThatKevinSmith @netflix @Marvel @Daredevil Thank you sir my stunt team worked hard on that scene I can honestly tell U its a true one shot!
— Philip Silvera (@philipsilvera) April 13, 2015
Benjamin: Die ersten fünf Folgen von Netflix‘ Daredevil konnte ich mittlerweile sehen, der Rest folgt in den kommenden Tagen. Zeit für ein Zwischenfazit: Die Serie ist so gut, wie man es erhofft, aber nicht zu glauben gewagt hat. Kaum zu denken, dass sie im Marvels Cinematic Universe spielt. Dafür ist der Ton der Serie fast schon zu düster, die Brutalität beinahe übertrieben. Die Figuren sind mit hervorragenden Schauspielern besetzt und erfüllen die aus den Comics bekannten Rollen sehr glaubhaft. Daredevil profitiert von der zusammenhängenden Storyline, die viel mehr Spielräume zur Entfaltung der Charaktere und ihren Beziehungen zueinander lässt, als dies bei bisherigen Superhelden-TV-Serien der Fall ist. Das Potenzial ist riesig, ausgeschöpft wird es allerdings noch nicht. Kein Grund, in grenzenlose Euphorie zu verfallen, dafür ist noch zu viel Luft nach oben. Ich würde mir noch mehr charakterliche Tiefe, noch mehr Emotionen wünschen. Vielleicht ein Stückchen weniger Gekloppe, dafür mehr Anwaltsarbeit. Trotzdem ist die Serie bereits jetzt der qualitative Maßstab, an dem sich alle zukünftigen Superhelden-Adaptionen messen lassen müssen. Und das ist ja schon mal was …
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