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Chester Brown: Fegefeuer und Selbstermächtigung

Toronto, 1982: Chester Brown war Mitarbeiter in einem Fotogeschäft, der in seiner Freizeit gerne zeichnete und von einer großen Comic-Karriere träumte. Seine damalige Freundin Kris überzeugte ihn, sein Material in Form von Minicomics im Selbstverlag herauszugeben, ein mutiger Schritt, über dessen Folgen sich beide zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise klar sein konnten. Chester Brown gab seiner Reihe den Titel Yummy Fur, eine Wortkomposition aus zwei nicht zusammenhängenden Begriffen, was dem Titel eine surreale Note verleihen sollte. Kris meinte, der Titel hätte eine starke sexuelle Konnotation, worauf Chester nur meinte: „Umso besser.“ Viele seiner Comics wurden seither nachgedruckt, teilweise mehrfach, aber gerade bei Chester Browns Werk lohnt auch ein Blick auf das Material, das zurückgelassen wurde. Im folgenden Essay soll der Blick sowohl auf die bekannteren als auch auf die vergessenen Comics von Chester Brown gelenkt werden, da zwischen diesen beiden Polen eine interessante Wechselwirkung zu erkennen ist. Es wird uns einen neuen Blick auf den Menschen Chester Brown ermöglichen.

Judas (US)

„Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.“ Mit diesen Worten richtete sich Jesus – zumindest nach dem Matthäus-Evangelium – am Vorabend seiner Verhaftung durch die Römer an seine Jünger. Zu diesem Zeitpunkt war Jesus bereits im Bilde darüber, dass Judas ihn für 30 Silberlinge an die Römer verraten hat, und das ließ er den Verräter auch spüren. Aber hat Judas seinen Herrn tatsächlich „verraten“? Wie sonst, wenn nicht durch ihn, hätte es denn zur Kreuzigung und damit zur Vollendung der Heilsgeschichte kommen sollen?