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Tunnel

Immer wieder wurden Hergé und George Lucas herangezogen, um Rutu Modans Tunnel erzählerisch zu verorten. Das ist naheliegend, aber ungerecht.

Alle Abbildungen © Carlsen

Grenzerhaltende Mauern zwischen Staaten haben neben der pragmatischen Funktion auch einen hohen symbolischen Wert. Das zeigt sich an der amerikanisch-mexikanischen Grenze (inzwischen mit transnationaler und gleichermaßen symbolischer Wippe) wie auch in Berlin oder zwischen Nord- und Südkorea – der Bambuszaun zwischen den Ländern wurde 1988 etwa im Lustigen Taschenbuch #130 (Paperolimpiadi / Seoul 1988. Olympisches Fieber) verewigt. In Tunnel hat die israelische Comic-Künstlern Rutu Modan (Blutspuren, dt. 2008, Das Erbe, dt. 2013) sich nun der Stahlbetonmauer zwischen dem Staat Israel und dem palästinensischen Westjordanland gewidmet. Dieser Tunnel ist aber kein Fluchtweg. Niemand entkommt ihm.

Die Geschichte dreht sich um die arbeitslose Archäologin Nili Broshi, ihren senilen Archäologen-Vater Israel, ihren karrierebewussten Archäologen-Bruder Nimrod und ihren handyfixierten Sohn Doktor. Nili stößt in der Sammlung des eigenwilligen und kaufsüchtigen Kunstsammlers Emil auf eine Tontafel ihres Vaters. Diese hatte Israel Broshi 35 Jahren zuvor bei einer Ausgrabung entdeckt und ihren Wert rasch erkannt: Es handelt sich um eine babylonische Wegbeschreibung nicht etwa zu einem alten Tonkrug, nicht etwa zu irgendeinem Goldschatz, sondern zu dem Schatz der Schätze: zur Bundeslade.

Israel und Nili, die ihr Vater schon früh an seinen Ausgrabungen beteiligte, haben schon 35 Jahre zuvor nach der Bundeslade gesucht und zu diesem Zwecke einen Tunnel gegraben. Tragischerweise wurde in der Zwischenzeit, seit 2002, die Grenzanlage zwischen Israel und den palästinensisch dominierten Gebieten gebaut. Nili und ihr improvisierter Bautrupp stehen vor einer bis zu acht Meter hohen Mauer aus Stahlbeton, die den Zugang zu dem Tunneleingang versperrt. Nun ja: Ein neuer Tunnel muss her, und wie der Zufall es will, wird auf der palästinensischen Seite ebenfalls gegraben. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht zu einem Knall kommen sollte.

Andreas Platthaus hat den Doppelvergleich zwischen Hergés Tim und Struppi und Indiana Jones (Raiders of the Lost Ark, 1981, Regie: George Lucas) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gezogen, Andreas Fanizadeh in der taz. Sowohl der belgische Comic-Künstler als auch die Tetralogie um den Abenteuer-Archäologen Indiana Jones gehören zu einem popkulturellen Kanon, den die meisten von uns miteinander teilen. Rutu Modans Tunnel bedient sich stilistisch und erzählerisch bei Hergé, im Motiv der Hatz nach der Bundeslade bei George Lucas.

Schmeichelhaft finde ich diesen Vergleich nicht, denn – und das gestehe ich nur, weil ich hoffe, dass es am Ende eines so langen Satzes niemand mehr lesen wird – ich habe nie verstanden, was mich an Hergés Tim und Struppi, abgesehen von einem comichistorischen Interesse, reizen sollte. Diese langweiligen, oberflächlichen Figuren und diese Und-dann-und-dann-Abenteuererzählungen, die nicht einmal einem Vierjährigen logisch erscheinen (empirisch belegt). Rutu Modan bedient sich visuell der Ligne Claire in der Tradition Hergés und unterscheidet sich in der überzeichneten Figurengestaltung (der verrückte Professor, der kaufwütige Sammler, der gleichermaßen gläubige finanzbewusste Unternehmer etc.) durchaus nicht von dem Ensemble von Tim und Struppi. Aber sie erschöpfen sich darin nicht, sondern haben eine biografische Tiefe und werden dadurch spannende und widersprüchliche Figuren, deren Handlungen plausibel motiviert sind – oder manches Mal auch geheimnisvoll bleiben. Mit anderen Worten: Der Vergleich mit Hergé ist nicht gerecht, weil Modan es besser anstellt.

Modan scheut keine Slapstick-Einlagen, wenn sie etwa den senilen Vater sich ein Wasserglas über die Brust auskippen lässt, und überhaupt geht es in dem Tunnel sehr kurzweilig zu: Die wissbegierige Mutter Nili muss ihrem Sohn Doktor stets ihr Handy zur Verfügung stellen, damit dieser seine Spiele spielen kann. Überhaupt interessiert sich der Sprößling nicht für Archäologie, nicht für die Bundeslade oder für irgendwas anderes. Bestenfalls für den Akkustand des Mobiltelefons. Daraus macht Modan aber keine Jugend- oder Technikkritik mit erhobenem Zeigefinger, sondern einen unterhaltsamen Running Gag.

Auch Modans früherer Comic Das Erbe liegt nicht ganz fern: Dort gehen eine israelische Frau und ihre Großmutter nach Warschau, um mittels eines aufgefundenen Schriftstücks ein altes Familienerbe ausfindig zu machen. Die Suche nach der vermeintlich geerbten Wohnung gerät rasch zu einer Odyssee und führt tief in die Tiefen der Familienbiografie.

Zuletzt geht es in Tunnel gar nicht ausschließlich um israelisch-palästinensische Politik (ebenso wenig wie in Das Erbe um jüdisch-polnische Politik). Ganz im Gegenteil. Im Vordergrund von Modans Tunnel steht die lückenhafte Familienbiografie der Broshis, die auch durch eine Reise in die Vergangenheit bzw. in die Tiefe nicht ganz erschlossen werden kann. Dieser Tunnel ist kein gewöhnlicher Transitraum, denn er führt nirgends hin. Oder er führt jede der Figuren an sein eigenes Ziel. Es wird nicht für alle Figuren gut ausgehen.

Rutu Modan ist mit Tunnel ist ein wundervoller Comic gelungen, bei dem man sich kaum entscheiden mag, ob es eine Familien- oder Abenteuergeschichte, eine politische Erzählung oder eine humorvolle Story mit hohem Symbolgehalt ist. Wahrscheinlich alles zugleich.

Tunnel und ganz viel Licht

9von10Tunnel
Carlsen Verlag, 2020
Text und Zeichnungen: Rutu Modan
Übersetzung: Markus Lemke
280 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 28,00 Euro
ISBN: 978-3551785923
Leseprobe

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