Als vor über 25 Jahren die ersten Sandman-Episoden bei DC erschienen, war nicht absehbar, wie sensationell erfolgreich und einflussreich die Serie werden würde. Zu obskur schien die Grundprämisse und zu unerfahren der junge Autor Neil Gaiman, als dass man mehr als eine kurzlebige Miniserie hätte erwarten können. Wie man weiß, geschah das Unwahrscheinliche: Die Serie wurde zu einer wichtigen Wegmarke des amerikanischen Autorencomics und einem deutlichen Signal dafür, dass Anspruch und Mainstream sich nicht gegenseitig ausschließen.
Anfangs war die Serie noch fest im DC-Superheldenkosmos verankert, aber schon früh zeigte sich, dass man Neil Gaiman besser außerhalb der genormten Superheldenwelt fabulieren lässt. Neil Gaiman genießt ohnehin einen gewissen Ausnahmestatus beim DC-Verlag, so dass er auch ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Sandman-Heft Einfluss und Mitspracherecht an seinen Figuren genießt. Sicherlich auch deswegen war Neil Gaiman gerne bereit, zum 25. Jubiläum der Serie eine neue Miniserie zu seinem Mythos zu schreiben.
Sandman: Ouvertüre ist ein typisches Prequel geworden, zeitlich vor der Serie angesiedelt, aber virtuos mit all den Elementen ausgestaltet, die sich in der ursprünglichen Serie erst nach und nach entwickeln und etablieren mussten. Selbst Figuren des DC-Universums bekommen, erstmals seit dem ersten Sandman-Zyklus, wieder kleine Gastauftritte – die Welt der Träume ist ein Schirm, in dem alle Mythologien ihren Platz haben. Genau genommen zeigt sich gerade hier das ganz große erzählerische Kunststück des Neil Gaiman: Er integriert in seiner kosmischen Fantasy-Saga alle existierenden Weltkonzepte als parallele Erzählungen mit Eigenleben und -dynamik, die allen Widersprüchen zum Trotz fest und unverrückbar in der Welt sind. Nicht umsonst trägt der Sandman auch den Namen „Prince of Stories“.
Ich stelle es mir durchaus reizvoll vor, Sandman: Ouvertüre ohne Vorkenntnisse der ursprünglichen Reihe zu lesen. Als Neuleser gleicht man nicht jede Szene und jede Figur mit dem eigenen Vorwissen ab und kann viel unvoreingenommener und unkritischer an die Lektüre gehen. Andererseits dürfte gerade den Neuleser Gaimans poetische Sprache irritieren, die in Ouvertüre noch massiver als sonst zum Einsatz kommt. Teilweise gibt es seitenweise kein Panel, das nicht durch irgendeine sprachliche Anomalie auffällt. Das geht schon los mit den Figuren der Ewigen, welche die Konzepte Dream, Destiny, Desire, Destruction, Despair, Delirium und Death personifizieren und daher auch so heißen. So ist es bei Gaiman ganz normal, dass der Tod weiblich ist und der Traum männlich. An anderer Stelle ist von einem Wirbel die Rede, der wiederum weiblich ist. Für den Übersetzer ist das eine massive Herausforderung – und ich bin bis heute nicht überzeugt, ob es die beste Idee war, die Namen Dream, Destiny, Desire, Destruction, Despair, Delirium und Death unübersetzt als Eigennamen zu behandeln, auch wenn es sich um eine nachvollziehbare Entscheidung handelt.
Neil Gaiman ist ein Ausnahmetalent, dessen Poesie im englischen Original zweifelsohne klangvoll und sehr präzise geschrieben ist. Leider hat die Übersetzerin, Gerlinde Althoff, obwohl sie ambitioniert übersetzt, das Material nicht immer im Griff. Manchmal wünscht man sich, sie würde gerade bei den besonders umständlich und versponnen geschriebenen Stellen einen Gang zurückschalten und vielleicht freier und klarer formulieren als es das Original vorgibt. Was spricht dagegen, den Text eigenständig neu zu formulieren, wenn sklavische Texttreue bis in den Satzbau hinein das Leseerlebnis beeinträchtigt?
Manchmal unterlaufen ihr auch ärgerliche Schnitzer: So bleibt das Wort „Oneiromancer“ beispielsweise unübersetzt und wird als Eigenname verwendet, so dass sich die Übersetzung weitaus kryptischer liest als das Original. Dabei hätte man aus diesem Kunstwort, das sich sich aus den Worten „oneiric“ (traumartig) und „romancer“ (Fantast) zusammensetzt, sehr schön ein deutsches Pendant stricken können. „Traumtänzer“ wäre ein passendes – und adäquat poetisches – Wort gewesen. Gerade aufgrund solcher Unzulänglichkeiten wirkt der Text in der deutschen Fassung teilweise prätentiös.
Die Übersetzung wäre meiner Meinung nach gut beraten, nicht jede sprachliche Spielerei eindeutschen zu wollen. Ich halte das bei einem Comic wie Ouvertüre schon wegen der schieren Masse von textlichen Spezialfällen für überlebenswichtig. Ist die „Company of Forgotten Trumps“ wirklich dasselbe wie die „Gesellschaft vergessener feiner Kerle“? „Trump“ ist ein poetischer Begriff mit Tradition, ein „feiner Kerl“ ist im deutschen dagegen zuallererst ein umgangssprachlicher Begriff – und auch die Häufung von Adjektiven ist bei diesem Beispiel unschön.
Ich fürchte, man hat stillschweigend akzeptiert, dass die Übersetzung eines Comics eine Qualitätseinbuße bedeuten darf, hält aber gleichzeitig den Ansatz für tabu, dass man auch einen Autorengott wie Gaiman in einer Übersetzung durchaus an die Gepflogenheiten der Zielsprache anpassen kann. Vielleicht wurde Sandman: Ouvertüre einfach zu schnell übersetzt, um zeitnah am amerikanischen Original sein zu können. Das wäre fatal, da es einem Übersetzer erfahrungsgemäß Sicherheit verleiht, wenn er ein Werk komplett kennt.
Abgesehen von der Übersetzung erreicht Sandman: Ouvertüre auch sonst nicht ganz die Klasse des Originalwerks. Das liegt vor allem an der verworrenen und sprunghaften Szenenführung, aber auch an einer Vagheit in der Erzählhaltung, die nicht nur jeden Übersetzer, sondern auch jeden Leser des Originals vor ungelöste Rätsel stellt. Dennoch erkennt man zu jeder Zeit Gaimans Handschrift und bemerkt sehr schnell, wie sehr Gaiman im Sandman-Kosmos noch zu Hause ist. J. H. Williams‘ Zeichnungen sind ein würdiger Beitrag zur Reihe und bieten eine angenehme stilistische Geschlossenheit, allerdings verstärken seine Bilder auch die flatternde Unruhe der Erzählung.
Als Fazit möchte ich noch einmal klarstellen, dass es einerseits sehr schade ist, dass die Übertragung ins Deutsche immer wieder hakt, dass Neil Gaimans Arbeiten aber eine besondere Herausforderung für jeden Übersetzer darstellen. Es ist ein langgehegter Traum von mir, selbst einmal Hand an die Übersetzung eines Comics des DC-Vertigo-Imprints zu legen, allerdings hätte ich durchaus Angst vor der Verantwortung, den Untiefen des Materials und nicht zuletzt auch dem harschen Urteil der Fans. Es ist wahrscheinlich leichter, Neil Gaiman zu sein als sein Übersetzer.
Das Sandman-Prequel ist eine würdige, wenn auch etwas sperrig geratene „Fortsetzung“ des Klassikers.
Panini Comics, 2015
Text: Neil Gaiman
Zeichnungen: J. H. Williams III
Übersetzung: Gerlinde Althoff
120 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 16,99 Euro
ISBN: 978-3957982537
Leseprobe
Rückblickend betrachtet ist die Kritik an der Übersetzerin zu harsch ausgefallen. Text und Bild stehen auch im Original manchmal wie Öl und Wasser zueinander und integrieren sich nicht unbedingt zu einer geschmeidigen Leseerfahrung. Daran haben sowohl die ästhetisierenden Zeichnungen als auch der artifizielle Text gleichermaßen ihren Anteil.
Ich würde heute, 3 Jahre später nicht mehr schreiben, dass Gerlinde Althoff den Text nicht „in Griff“ habe und ihr „ärgerliche Schnitzer“ unterlaufen. Das Problem lieg, zumindest in Teilen, bereits im Quellmaterial.
Christian Muschweck