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Der Fluch der Spindel

Bei manchem potenziellen Leser stellen sich die Ohren auf und die Augen weiten sich vor Vergnügen, wenn ein neuer Band von Neil Gaiman angekündigt wird. Schließlich ist der Brite nicht nur ein erfolgreicher Autor von Romanen und Kurzgeschichten, er schuf mit Sandman auch eine der besten Comicserien aller Zeiten. Auch seine sonstigen Ausflüge in den Comicbereich sind hoch angesehen und werden teilweise geradezu kultisch verehrt. So schuf er unter anderem Die Bücher der Magie und Graphic Novels wie Signal to Noise, Mr. Punch und Violent Cases. Auch bei den Superhelden tobt er sich immer wieder mal aus und scheut sich auch nicht, mal einen Helden in Miniserien wie Black Orchid sterben zu lassen. Immer konnte man von ihm etwas Unerwartetes erwarten. In den letzten Jahren hat er sich, abgesehen von der Sandman Ouvertüre, im Comicbereich recht rar gemacht, die meisten „Gaiman-Comics“ waren Adaptionen seiner Kurzgeschichten und Romane. Auch Der Fluch der Spindel war ursprünglich eine Kurzgeschichte, die 2013 in der Antholgie Rags & Bones erschien.

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© Knesebeck

Bei dem hier vorliegenden Band handelt es sich jedoch nicht um eine Comicadaption, sondern um eine illustrierte Fassung der Kurzgeschichte. Wer also neuen Stoff, gar einen neuen Comic des Meisters erwartet hat, dürfte enttäuscht sein. Was nicht heißen soll, dass die Erzählung schlecht wäre – herausragend ist sie aber auch nicht. Die Königin der Zwerge erfährt aus dem benachbarten Königreich, dass die dortige Prinzessin in einen tiefen Schlaf gefallen ist und sich diese Schlafkrankheit langsam ausbreitet. Zusammen mit drei Gefährten macht sie sich auf die Reise, um die Prinzessin aufzuwecken.

Wie man unschwer erkennen kann, liegt hier eine Variation des Märchens um Dornröschen vor. Die Grundzüge bleiben gleich und es braucht auch keine detaillierte Kenntnis des Kanons der Gebrüder Grimm, um eine zweite zentrale Märchenfigur auszumachen. Gaiman verknüpft recht geschickt zwei gar nicht so unterschiedliche Märchen. Gegen Ende gibt es dann einen Twist, der durchaus unerwartet kommt und einige Klischees auf den Kopf stellt. Dies ist auch der Kern und der große Pluspunkt der Geschichte: Gaiman spielt mit den Erwartungen des Lesers, der mit den Märchen vertraut ist, und nutzt standardisierte Beschreibungen, um sie ins Gegenteil zu verkehren. So muss etwa eine alte bucklige Frau nicht immer eine Hexe sein. Doch insgesamt wirkt die Story wie eine Fingerübung und Gaiman ruht sich, jedenfalls für seine Verhältnisse, etwas zu sehr auf den Vorlagen aus, um in den Details Neues zu finden. Immerhin war er ehrlich genug, es nicht auf den Umfang eines Romans aufzublasen. Dafür wäre nicht genug Substanz vorhanden gewesen.

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© Knesebeck

Illustrator Chris Riddell schafft es nicht nur, den Text mit schönen filigranen Bildern zu versehen, er fügt auch Handlungselemente hinzu, die im Text überhaupt nicht vorkommen. Damit feuert er auch die Fantasie der Leser an, sich selber Geschichten um den eigentlichen Text herum auszudenken. So ist in den Gängen unter dem Berg ein Monster zu sehen, das mit keinem Wort erwähnt wird, vor dem aber die Zwerge offensichtlich Respekt haben. An anderen Stellen dramatisiert Riddell die Ereignisse und unterstreicht einen gewissen Horrorcharakter. So wirken die Schlafenden teilweise wie Zombies, und das macht es um einiges unheimlicher und blutiger als beschrieben. Zugleich wird eine sehr züchtige Stelle im Text durch die Illustration erotisch aufgeladen, was einen zu der Überlegung bringt, ob nicht auch in den Originalmärchen manches nur symbolisch umschrieben ist, was man auch sexuell deuten könnte.

Riddells filigrane Bilder, die in Schwarz-Weiß gehalten und nur manchmal mit Goldfarbe versehen sind, was sie ein bisschen an Biedermeierporzellan erinnern lässt, geben in der Tat zusätzliche Schichten preis und laden zu einer doppelten Sichtweise bei der Lektüre ein. Insofern hat man es hier mit einer gelungenen und spannenden Version eines alten Märchens zu tun, in der mehrere Ebenen eröffnet werden.

Nur in den Details finden hier Neuerungen statt, wobei gerade die Illustrationen faszinieren, indem sie zusätzliche Elemente beisteuern.

Der Fluch der Spindel
Knesebeck Verlag, 2015
Text: Neil Gaiman
Zeichnungen: Chris Riddell
Übersetzung: Reinhard Tiffert
72 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 16,95 Euro
ISBN: 978-3-86873-872-8
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