Die Buntheit des Regenbogens ist zum Symbol für die Akzeptanz verschiedener Beziehungsbiografien geworden. Matthias Lehmann hat in Parallel eine triste Welt aus Grautönen entstehen lassen.
Karl Kling ist homosexuell, und weil seine Geschichte nicht in den 2020er Jahren, sondern vor allem in den 1950er Jahren spielt, ist das leider ein Problem, das zu erzählen Matthias Lehmann 464 Seiten benötigt. Im Rückblick verkommt jedes Jahrzehnt zu einem Klischee, und die 50er müssen es sich oft gefallen lassen, auf inzwischen überkommene Modelle von Familie und Geschlecht reduziert zu werden: Der Mann ist ein Kerl, die Frau eine Perle. Dass Karl sich in dieses Raster nicht so recht fügen mag, ist zunächst für ihn selbst ein großes Problem, schließlich aber auch für alle anderen in seiner Umgebung, denn er entwickelt sich zu einem professionellen Lügner.
Wir lernen Karl abwechselnd als jungen Familienvater und als gealterten Junggesellen kennen – Lehmann erzählt beide Lebensphasen, passenderweise parallel, d.h. der Fokus springt von einer Rückblickserzählung aus den 1950er Jahren immer wieder in eine unbestimmte Erzählgegenwart, mutmaßlich in den 1980ern. Auf dieser Ebene liegt auch der Fluchtpunkt der Story, denn wir blicken Karl über die Schulter, wie er einen Brief an seine Tochter Hella zu schreiben versucht. Karl hat nämlich alles versemmelt.
Nachdem Karl unversehrt aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt ist, arrangiert er sich mit den Notwendigkeiten eines bürgerlichen Daseins, noch ohne genau zu wissen, welche Leidenschaft einmal zum Thema seines Lebens werden würde. Er heiratet Anna, die Tochter des Bürgermeisters, findet eine Anstellung in einer Fabrik und knüpft neben niederschwellig-oberflächlichen Saufkumpelschaften im Stammtischmilieu auch eine tiefe und lebenslange Freundschaft mit seinem Kollegen Adam. Er wird Vater, und jetzt versemmelt er alles.
Die Ehe mit Anna bröckelt, als Karl sich nach Feierabend seine Freiräume zu bewahren sucht, vor allem indem er sich von seiner Familie absondert und einsame Abende am See verbringt. Zwei parallel nebeneinanderherlaufende Leben muss Karl führen, ein unerfülltes Familienleben und ein unerfülltes Leben in Heimlichkeit. In dem durch und durch sexualisierten Umfeld seiner Kollegen kann er seine sexuelle Orientierung aber nicht vollständig verbergen, und so kommt es zum Eklat. Er muss seine Familie und die Stadt verlassen. In Leipzig versucht er einen Neuanfang.
Dort lernt er die alleinstehende Lieselotte kennen, verbringt viel Zeit mit ihr und letztlich auch eine folgenreiche Nacht. Neun Monate später tritt Hanna in Karls Leben, aber der schöne Schein des heterosexuellen Familienlebens vergrößert nur den Druck auf Karl. „Deshalb ist man doch zu zweit. Mann und Frau“, erklärt ihm Lieselotte während eines Zoobesuchs. ‚Ganz natürlich‘ sei dies doch, und hier zeigt sich, wie feinsinnig Matthias Lehmann seinen Comic angelegt hat, wenn er im letzten Panel der Sequenz einen männlichen und einen weiblichen Löwen zeigt, als Inbegriff der authentischen Natur, „Mann und Frau“. Aber dieses Bild ist in zweierlei Hinsicht ironisch, denn zum einen leben die Tiere hinter Gitterstäben, und zum anderen sehen wir nun Lieselotte und Karl durch die Gitterstäbe der Löwen wie in einem Käfig.
Er fällt wieder in seine alten Muster zurück, und als er die Abende nicht mehr in Ein-, sondern in Zweisamkeit zubringt, wird er erwischt und inhaftiert. Bis 1969 wurde Homosexualität in der Bundesrepublik als Straftatbestand eingestuft. Als seine Familie ihn verlässt, folgt er ihr nicht aus dem Drang nach Anpassung heraus, sondern aus Zuneigung gegenüber seiner Tochter wie auch seiner Frau. Sie leben zu dritt mit- oder doch eher nebeneinander her, und Matthias Lehmann gelingt es, die drei unglücklichen Seelen auf einer Seite zu platzieren und die Distanz doch spürbar zu machen. Auch wenn die Beziehung letztlich doch scheitert, bleiben Lieselotte und Karl einander verbunden. Hanna aber möchte mit ihrem Vater nichts mehr zu tun haben. Ob sein Brief sie erreicht, wird die Leser*innen bis zum Schluss auf die Folter spannen.
Sein Ziel, zwei Leben parallel zueinander zu führen, scheitert kläglich, so dass der Titel auch etwas ironisch daherkommt: Karls beide Lebenslinien treffen sich keineswegs nur im Unendlichen, sondern rasseln vielmehr regelmäßig aneinander.
Lehmann erzählt die Geschichte als eine private Angelegenheit unter fast völliger Aussparung der politischen Dimension. Diese Entscheidung klingt erstaunlich, weil dieses Thema sich natürlich hervorragend in den Kontext gesellschaftlicher und gesetzgeberischer Entwicklungen hätte stellen lassen können. Verpflichtet sich ein Comic, der sich eines politisch-gesellschaftlichen Themas annimmt, nicht nur die historischen Umstände akkurat zu erzählen, sondern auch die zeitgenössischen Diskurse anschaulich zu machen? Oder wird dieser Anspruch dem Genre nicht gerecht? Immerhin ist Parallel weder als (Auto-)Biografie noch als Essay markiert – auch wenn Lehmann die Biografie des Großvaters seiner Freundin als Vorlage genommen hat, kommt Parallel als fiktionales Werk daher. Und es ist selbstbewusst, die Fiktion sich selbst genug sein zu lassen und sie nicht mit allzu viel Geschichtsschreibung anzureichern.
Lehmann hat an diesem sehr eindrucksvollen Debüt acht Jahre lang gearbeitet. Die Mühe hat sich gelohnt. 2018 wurde Parallel von der Berthold-Leibinger-Stiftung in die Gruppe der Finalisten des Comicbuchpreises gewählt. So lesens- wie sehenswert.
Nebelgrau statt Regenbogen
Reprodukt, 2021
Text und Zeichnungen: Matthias Lehmann
464 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 29 Euro
ISBN: 978-3-95640-256-2
Leseprobe
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