David Bowie verstarb am 10. Januar 2016. Fünf Jahre darauf erschien der erste Teil von Reinhard Kleists Bowie-Biografie. Nun ist bei Carlsen mit Low der Nachfolgeband von Starman erschienen. Rock n Roll oder Schlager?
Gerrit: Wann hat es eigentlich angefangen, Biografien als Fortsetzungsgeschichten zu schreiben? Nach Stockhausen ist es nun schon wieder passiert. Der Berufsmusikbiograph Reinhard Kleist (Johnny Cash, Nick Cave) hat das Leben von David Bowie in der Mitte durchgeschnitten, den ersten Band zu dessen 75. Geburtstag und den zweiten Band im November 2024 veröffentlicht. Im ersten Band verfolgten wir seine musikalische Karriere bis in die frühen 1970er Jahre, der zweite Band widmet sich seiner Berliner Phase zwischen 1976 und 1979. In diesen Jahren entstanden seine Alben „Low“, „Heroes“ und „Lodger“. Zwei großartige Highlights der Bowie-Diskografie und, naja, „Lodger“ eben.
Christian: Der Titel „Low“ deutet ziemlich gut die Akzentuierung an, die die Erzählung im weiteren Verlauf nehmen wird. Das Gegenteil vom „Starman“ sozusagen, von den Sternen ins Flachland zurück. Ein Großteil von „Low“ handelt davon, dass der Berlin-Aufenthalt für David Bowie die Rettung war, er wäre sonst am Ruhm, an den Fans, an den Drogen zerschellt. Kleists Low feiert David Bowies Fähigkeit, sich selbst zu korrigieren. Das durch die Mauer geteilte Berlin war für Bowie gleichermaßen Rückzugsort und Impulsgeber für neue Kreativität. Reinhard Kleist versteht es meiner Meinung nach gut, die Tristesse der Mauerstadt einerseits, andererseits die Bedeutung dieser Stadt für Bowie in Szene zu setzen. Aber er macht es uns Lesern nicht immer leicht, denn Dialoge sind nicht gerade Kleists Stärke und oft nutzt er Dialoge, um uns zu vermitteln, was passiert. Die Motivation ihrer Handlungen haben die Figuren zu oft auf der Zunge, dazu wirken manche Texte wie aufgesagt, z.B. Bowies „Wo ich bin ist vorn.“ Hat er das wirklich gesagt? Selbst wenn, wirkt es gestelzt.

Bowies Sprache: Künstlich und gestelzt oder authentisch-artifiziell?
Gerrit: Man kann Zitate gar nicht so schnell googeln, wie man jemandem neue unterschieben kann. Ich kenne die Zeile nicht von Bowie, aber ich will es auch nicht ausschließen. Immerhin ist Bowie ein Pop-Avantgardist, wie er im Buche steht – und das entspricht seinem Zitat (oder Pseudozitat) ja ganz wörtlich. Comicbiografien können es kaum richtig machen: Entweder greifen Autor und Zeichner den Stil oder das Kunstverständnis des Porträtierten auf (und scheitern daran oft), oder sie ignorieren es völlig. Es gibt etwa eine M.-C.-Escher-Biografie von Andrès Abiuso und Lorenzo Coltellacci, in der beide versuchen, Eschers Leben in dessen Manier zu erzählen – das Ergebnis ist nicht sehr gelungen, und das geht vielen solcher Versuche so. Low wiederum ist eine Biografie über einen sehr experimentierfreudigen Künstler, Kleists Lebensbeschreibung selbst ist hingegen eher konventionell in Hinblick auf den für Kleist typischen Stil und die Erzählweise. Das kann man langweilig finden, oder aber man respektiert, dass der Künstler auf diese Art geerdet wird. Ich finde die Entscheidung nicht sehr aufregend, aber nachvollziehbar. Anhand des Vergleichs mit Mike Allreds und Steve Hortons Bowie (Cross Cult) werden die verschiedenen Herangehensweisen deutlich: Allreds und Hortons Bemühen, Bowies Unbändigkeit freien Lauf zu lassen, und Kleists Versuch, ihn einzufangen.
Christian: Da ist mir Kleist aber lieber. Allreds Arbeit ist mir zu sehr in die Glitter-Oberfläche verliebt. Furchtbarer Nostalgie-Kram. Kleist dagegen ist schon fast offensiv uncool. Finde ich den mutigeren Ansatz. Trotzdem: Vieles an Kleists Texten ist einfach nicht besonders gut. Nimm Seite 12, wo der Toningenieur den Einsatz eines Harmonizers erklärt:
„Klingt kalt. Unnatürlich. Irgendwie unmenschlich.“
Darauf Bowie:
„Fremd, zerrissen und brüchig. Ein Übergang vom Hedonismus des amerikanischen Rock’n Roll mit all seiner selbstzerstörerischen Macht, hin zu etwas, von dem ich noch nichts weiß. Ein neues Leben in einer neuen Stadt.“

Eine dunkle, verlorene Seele, die ihren Weg verloren hat.
Kleist meidet erklärende Texte und lässt seinen Bowie Dinge aufsagen wie: „Ich bin nicht wie andere. Ich bin David Bowie!“ Auf die Frage, was ihn so anders macht, sagt er: „Meine dunkle, verlorene Seele.“ Das ist schon ein recht krudes Verständnis von dem, worüber ich mal belehrt wurde, das sei die „Grammatik der Comics“. Die Liste ließe sich fortsetzen. Viel zu oft sind Dialoge nur da, um a) zu verdichten, was gerade passiert oder b) eine kleine Interpretation und Einordnung zu liefern. Aber auch grafisch ist es plump. Natürlich beherrscht Kleist die Kunst der reduzierten Grafik und ich finde seine Bäume aus drei grätigen Strichen und einem Kreis, die wie Lollis in der Gegend stehen, auch wirklich allerliebst, aber gerade gegenüber solchen liebevollen Reduktionen wirkt die Farbgebung billig. Nicht nur fehlt mir das Farbkonzept, er ist ganz offensichtlich einfach nur mit dem Tabletstift über die Oberfläche gefahren und hat geschlossene Flächen recht random ausgefüllt. Bing. Bing. Bing. So mal ich dir das auch aus.
Gerrit: Zugegeben, das Zitat oben klingt allzu sehr nach Klappentextprosa, die man Bowie direkt in den Mund legt. Aber wie schwer macht David Bowie es einem auch: Wenn er in einer seiner Figuren in Interviews spricht, ist das auch sehr distinguiert, sehr alltagsfremd. Welche Sprache soll man David Bowie eigentlich andichten? Ich finde es zu bemüht, wenn man Figuren in Comics, um eine alltägliche Sprache zu imitieren, Sätze mit vermeintlichen Mündlichkeitsmarker in den Mund legt. Die gestelzte Sprache passt halt zu Bowies Rollenspielen. Was die Farbgebung vor allem der Hintergründe angeht, gebe ich dir völlig Recht.
Mir gefallen die Szenen, wenn Bowie durch Berlin schlendert und die Stadt wahrnimmt wie der Außerirdische, den er in The Man Who Fell to Earth spielt. Dieser Film wurde ja auch als Comic adaptiert, wenn auch nicht sehr gelungen. Was macht Bowie eigentlich so interessant für diese Vielzahl von Comic-Adaptionen?
Christian: Ist das nicht offensichtlich? Er bietet Projektionsfläche und regt die Fantasie an. Ich kenne allerdings nicht viele Bowie-Comics, mal abgesehen von zwei Mike-Allred-Arbeiten – dessen Bowie-Biografie und Red Rocket 7, denen ich beiden nicht viel abgewinnen konnte. Allred mag ein toller Künstler sein, aber ich mag einfach nicht, was er zeichnet. Die Story von The Man Who Fell to Earth hat ja Kleist selbst recht ordentlich auf vier Seiten zusammengerafft – und gar nicht schlecht. Ich finde überhaupt, dass mich Kleists Low ab der Mitte langsam doch für sich gewinnen kann. Mit zunehmender Lesedauer schält sich heraus, wie gefährlich nah Bowie dem dauerhaften psychischen Zusammenbruch gekommen ist und wie brisant die uns hier erzählte Lebensphase tatsächlich war, das lässt dann auch ein Gefühl für Dringlichkeit entstehen. Bowies Aussetzer, seine manischen Phasen, sein Faible für Okkultismus, der Hitlergruß-Skandal, sein Entdecken der Cut-Up-Technik, das Abstürzen und sich dann Am- eigenen-Schopf-aus-der-Misere-Ziehen fügen sich schlussendlich doch zu einer stimmigen Komposition. Schön finde ich auch, wie sich das Motiv der non-linearen Montage in Kleists erzählerischen Ansatz einschleicht. Man weiß ja manchmal tatsächlich nicht, an welchem Zeitpunkt von Bowies Karriere man sich gerade befindet, doch es schadet der Erzählung auch nicht, dass sie uns ab und zu etwas Aufmerksamkeit abverlangt. Und ich mag das komplette letzte Viertel sehr: die letzten 30 Seiten, sind wirklich stimmungsvoll geraten und entschädigen für so manche Durststrecke der ersten Hälfte.

Kleist treibt die grafische Reduktion auf die Spitze.
Gerrit: Die Idee, manche Songs in die Handlung oder Bildwelt einfließen zu lassen, hat mir schon im ersten Band dieser Biografie sehr gut gefallen, und dort eigentlich auch etwas besser. Ich glaube, in Starman lag der Fokus auch stärker auf den Songs, wohingegen nun der Schauplatz Berlin, aus nachvollziehbaren Gründen, eine größere Rolle spielt. Warum brauchte es die Zergliederung in mehrere Bände? Für mich hätte es Sinn ergeben, die verschiedenen personas David Bowies in einzelnen Bänden zu porträtieren: Ziggy Stardust, Aladdin Sane, den Thin White Duke. Wer soll schon auch David Bowie sein, außer ein irreführender Sammelbegriff für völlig inkompatible Kunstfiguren, die jede Biografie sprengen müssen?
Wenn man spaßeshalber das Buch Helden von Tobias Rüther zur Hand nimmt, merkt man, wie dicht Kleist anhand dieses großartigen Sachbuchs entlangschreibt. Es wirkt fast wie eine Sachbuchcomicadaption. Viele Elemente aus Bowies Berlinzeit bzw. Bowies und Iggy Pops Berlinzeit sind inzwischen zum Mythos verklärt und gehören zu einem Kanon einzelner Mikroerzählungen: Bowies Fahrradexkursionen, Iggy Pop als mundräuberischer Sidekick, die Entstehung von „Heroes“. Kleist geht diese wie in der Mythologie immer wieder etwas anders erzählten Ereignisse allesamt auf und stellt sie manchmal auch einfach nebeneinander. So etwa Bowies Inspiration für „Heroes“: War es ein unbekanntes Liebespaar an der Mauer, ein Gemälde von Otto Mueller, das Kleist auch mehrfach zeigt oder etwa Bowies Produzent Tony Visconti und seine Affäre? Oder alle zusammen? Wie bei Bowie alles gleichzeitig stimmen kann, präsentiert es auch Kleist. Übrigens auch ganz wie Tobias Rüther. Kein Wunder dass Kleist den Autor gleich am Anfang seiner Dankesliste nennt. Kleist erzählt zugleich für Bowie-Nichtfans und mit einigen Anspielungen oder Pointen für diejenigen, die mit seinen Songs und seiner Biografie vertraut sind. Ich finde, dass er diesen Drahtseilakt ganz geschickt gemeistert hat.
Unter den vielen Biografien von Reinhard Kleist gefällt mir diejenige über Nick Cave immer noch am besten, erzählerisch wie vor allem zeichnerisch. Daran ändert diese Zweibandbiografie nichts, auch wenn sie ein guter Anlass ist, um alte Bowie-Alben wieder zu hören.
Christians Fazit: Bisweilen erzählerisch sowie grafisch hölzern. Das visionäre Finale allerdings überzeugt.
Gerrits Fazit: Nicht so avantgardistisch wie Bowie, aber dennoch spitze.
Carlsen Verlag, 2024
Text und Zeichnungen: Reinhard Kleist
176 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-551-79363-8
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