Der Klappentext sagt Joyce, der Titel brüllt Goethe, der Inhalt schreit nach Wallraff, aber der Comic flüstert: Delisle. In Lehrjahre beschreibt der kanadische Zeichner Guy Delisle seine jugendlichen Arbeitserfahrungen in einer Papierfabrik.
Mit 16 Jahren nimmt Guy Delisle einen Ferienjob in der Zellstoff- und Papierfabrik von Québec an. Es handelt sich dabei um die Fabrik, in der auch sein Vater arbeitet, allerdings lebt Guy bei seiner Mutter und hat nur wenig Kontakt zu dem Mann, der an seinem Sohn kaum Interesse zeigt.
Guy ist als Gehilfe für die Abläufe an gigantischen, rotierenden Papierrollen verantwortlich. Das sieht weder besonders abwechslungsreich aus noch klingt es sehr einfach, aber Guy jammert nicht. Und die amüsanten Begegnungen lassen den tristen Arbeitsalltag etwas bunter erscheinen. So erzählt er von Marc, der seinen Job aufgeben möchte, um sich voll und ganz dem Bodybuilding zu verschreiben: „Schau, ich hab ’nen Bizepsumfang von 40 Zentimetern. Ist nicht schlecht, aber ich will auf 42 oder 44 kommen.“ Oder von dem motorradbegeisterten Jake, der an der Universität Psychologie studiert. Die Menschen kommen und gehen – als Ferienjobber knüpft er keine Freundschaften, sondern bleibt ein Zaungast, der wie ein Soziologe mit kühlem Blick beobachtet, was er sieht. Später wird er von Jakes Unfalltod erfahren – nicht jede Szene ist heiter.
In seiner Freizeit zeichnet er gern, in gewisser Weise tritt er in die Fußstapfen seines Vaters, der seit 30 Jahren als Bauzeichner arbeitet. Der gemeinsame Arbeitsort macht umso sichtbarer, dass die beiden nicht zueinander finden: „Am Nachmittag sehe ich meinen Vater. Er geht zwischen zwei Maschinen vorbei. Es ist komisch, ihn irgendwo außerhalb seiner Wohnung zu sehen. Sollte ich nicht mal zu ihm gehen? Woher ist er gekommen? Aus seinem Büro? Ich habe keine Ahnung, wie ich dort hinfinde.“ Sein Vater wird ihm immer rätselhaft bleiben. Nach dessen Tod, und damit endet die autobiographische Geschichte, findet Guy bei der Haushaltsauflösung die Comics, die er seinem Vater geschenkt hatte, und er liest darin seine Widmung: „Für meinen Vater. Dein Sohn Guy.“ So, als wäre dies auch die Widmung von Lehrjahre. Es ist bezeichnend, dass die letzten Worte, die wir von den beiden lesen, sowohl von Guy stammen als auch von ihm gelesen werden. Der Vater ist eine Leerstelle.
„Ein Porträt des Künstlers als junger Mann und zugleich ein Ausflug in die Arbeitswelt der 1980er-Jahre“, formuliert der Klappentext. Sicher nicht zufällig knüpft der Verfasser dieser Zeilen an den gleichnamigen Bildungsroman A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) von James Joyce an. Schließlich gibt der deutsche Titel Lehrjahre die literarischen Traditionslinien, in denen der Text betrachtet werden soll, ostentativ vor: Kein geringerer als Goethe und dessen Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) bilden den Verständnisrahmen, wohingegen man den Industrie-Investigationsjournalismus eines Günter Wallraff (Ganz unten, 1983) getrost vernachlässigen kann. Anders als Kristina Gehrmann in Dschungel (Carlsen, 2018) geht es Delisle nicht um die Anklage prekärer Arbeitsbedingungen, vielmehr schildert er seinen Weg vom Jugendlichen zum Künstler. Der Originaltitel, unter dem der Comic 2021 bei Delcourt erschien, Chroniques de Jeunesse, hebt hingegen eher den lakonischen Stil hervor.
Die in der deutschen Ausgabe starke Bezugnahme auf den Bildungs- und Entwicklungsroman ist tatsächlich aber naheliegend: Der jugendliche, sich zum Künstler ausbildende Held muss sich ganz beiläufig mit der Sexualität anderer und seiner eigenen, mit dem Tod und mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen. Wir beobachten ganz beiläufig und ohne große Pointen Guy beim allmählichen Heranwachsen.
In Grautönen (wie passend für einen Comic über eine Zellstofffabrik) und mit blassgelben Highlights macht Delisle die Arbeit in der Fabrik anschaulich. Keine Fließband-Knechtschaft, keine untragbaren Arbeitsbedingungen, keine Ausbeuterverträge. Die Wirklichkeit, die er schildert, ist viel banaler, und wir tauchen in den gleichförmigen Alltag ein, der letztlich den jungen Mann zu einem Künstler formt. Der Erzähler reflektiert nicht die großen Themen des Lebens, sondern beobachtet bloß: „Die Älteren tragen lange Hosen, die Jüngeren Shorts.“
Guy Delisle (Pjöngjang, Geisel, Shenzhen) ist ein sehr stiller Comic gelungen, der die kleinen Ereignisse so beiläufig erzählt, dass man genau hinsehen muss. Ganz anders als etwa Wallraff. Auch anders als Goethe und Joyce. Wie Delisle eben.
Joyce, Goethe und Wallraff
Reprodukt, 2021
Text und Zeichnungen: Guy Delisle
Übersetzung: Heike Drescher
136 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3956402623
Leseprobe