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Der Dschungel

Am Anfang von Upton Sinclairs Roman Der Dschungel von 1906 steht eine Hochzeit, wie sie im modernen Europa schon lange nicht mehr üblich ist. Jurgis, der Bräutigam, ist ein Hüne mit buschigen Brauen, er „konnte ein 250 Pfund schweres Rinderviertel aufheben und in einen Wagen tragen, ohne dass er wankte oder dass es ihm überhaupt irgendetwas ausmachte“. Ona dagegen, die Braut, „war so jung – noch nicht ganz 16 – und klein für ihr Alter, eigentlich noch ein Kind“. Eine ungleiche Konstellation, und doch ist die Hochzeit einer der wenigen glücklichen Momente des Romans. Ona war an diesem Abend „so strahlend vor Glück, dass ihr Anblick fast wehtat“. Es sind brave Leute: Einwanderer aus Litauen, die sich an den Chicagoer Schlachthöfen ein geregeltes Einkommen erhoffen und von einem Leben im eigenen Häuschen träumen.

© Carlsen Verlag und Kristina Gehrmann

Aber die Arbeitsbedingungen sind mehr als verheerend. Der Konkurrenzdruck ist brutal, die Arbeiter werden gegeneinander ausgespielt, die laxen Hygienevorschriften werden gewissenlos hintertrieben und auch Dreck sowie verdorbenes und ungeeignetes Fleisch verwertet. Wer krank wird, sich bei der gefährlichen Arbeit verletzt oder auch nur im Winter nicht durch den Schnee kommt, wird rücksichtslos entlassen, obwohl der Lohn ohnehin ein Leben in Würde kaum gestattet. Schlimmer noch aber ist die Nähe der Industrie zum organisierten Verbrechen: Vermittler bringen Arbeitssuchende zwar an die gewünschten Stellen, verlangen aber ein Drittel des Arbeitslohns als Gebühr, Vorarbeiter betreiben nebenberuflich Bordelle und drängen schlecht verdienende Arbeiterinnen in die Prostitution, Rechtschutz genießen nur die Bosse. Sinclair beschreibt exemplarisch am Schicksal der Familie von Jurgis und Ona, wie arglose Menschen in diesen Verhältnissen immer mehr in die Illegalität gedrängt werden. Als Hoffnungsschimmer bleibt nur die Organisation der Arbeiter in eine Gewerkschaft, doch selbst dann steht ihnen ein schwerer Kampf bevor.

© First Publishing

1991 erschien bei First Publishing unter dem Imprint „Classics Illustrated“ eine von Peter Kuper gestaltete Adaption des Romans. Kuper hatte nur 44 Seiten zur Verfügung und doch gelang ihm das Meisterstück, die Essenz des Romans zu verdichten, was dem Erstleser einen guten Eindruck verschaffte, aber auch den Kenner des Materials durch prägnante Akzentuierung und Bildauswahl noch tief beeindrucken konnte. Ona und Jurgis entsprechen bei Kuper exakt der Beschreibung Sinclairs und der Horror des amerikanischen Raubtierkapitalismus dieser Zeit trifft sofort ins Herz. Verglichen mit solchen Vorbildern wirkt Kristina Gehrmanns Version des Romans, die jüngst bei Carlsen erschienen ist, eigenwillig.

Anders als in der Vorlage beginnt die Erzählung bei Gehrmann nicht mit Onas und Jurgis‘ Hochzeit, sondern einige Monate zuvor, als sie mit dem Schiff in Amerika ankommen. Anstelle einer erzählerischen Ellipse werden wir an die Hand genommen und erleben den Abstieg in den Dschungel streng chronologisch. Jurgis ist hier nicht der buschige Hüne, sondern ein sympathisch aussehender junger Mann ohne besondere Merkmale. Überhaupt ist die Darstellung zu glatt und ästhetisch geraten; das bedeutet aber nicht, dass Kristina Gehrmann keine gute Erzählerin ist. Unkommentiert erzählt sie über längere Sequenzen hinweg allein über Dialoge, Blicke und Gesten und führt uns dabei mit viel Feingefühl durch die Geschichte. Diese Erzählweise ist aber gleichzeitig das größte Problem ihrer Adaption. Nur was man hört und sieht, wird vermittelt, die Gedanken und Gefühle der Figuren bleiben uns dagegen verborgen beziehungsweise müssen aufgrund der Situation und der Mimik selbst hineininterpretiert werden.

Wann eigentlich haben Comickünstler damit begonnen, sich von erläuternden Texten und Gedankenblasen zu verabschieden? Ist es die gewollte Annäherung des Comics zum Film? Die Ablehnung von Gedankenblasen kann ich ja aus ästhetischen Gründen nachvollziehen, doch würde es den Werkzeugkasten eines Comickünstlers meiner Meinung nach enorm bereichern, wenn er oder sie sich auch des Stilmittels des inneren Monologs oder auch einer Erzählstimme aus dem Off bedienen würde. Frank Miller zum Beispiel ist ein Meister dieser Form. Obwohl sein Fokus stets auf Action und Dynamik liegt, verwendet er doch oft Off-Texte, was der Dynamik sehr zuträglich ist. Zum einen akzentuiert es deutlich das Spannungsfeld zwischen innerer Einkehr und äußerer Handlung, zum anderen bietet es auch schlichtweg mehr Abwechslung für den Leser.

Kristina Gehrmann dagegen wechselt nie Erzählhaltung oder Stimme. Da kann man sich beim Lesen sehr schön einen Film vor dem inneren Auge abspielen, aber es geht auf Kosten von Tiefgang. Actionszenen und Dialogszenen mögen auf diese Weise gut funktionieren, aber weiterführende Gedanken und Reflexionen sind doch nur sehr eingeschränkt möglich. Comic könnte so gut darin sein, hier mehr zu bieten als ein Film. Warum nur erlegt man sich solche Beschränkungen auf? Kein Wunder, dass Kristina Gehrmann daher auch nach etwas mehr als der ersten Hälfte von Upton Sinclairs Erzählung die Luft ausgeht. Oder wollte sie uns nur die bittere zweite Hälfte ersparen? Vermutlich war es zu viel verlangt, das freundliche Paar durch den Tod der Frau im Kindbett auseinanderzureißen. Ich halte Upton Sinclairs Der Dschungel aber nicht geeignet für zu viel Sentimentalität.

© Carlsen Verlag und Kristina Gehrmann

Kristina Gehrmanns grafisches Erzähltalent ist unbestritten, dennoch hätte ihr ein Autor gut getan, der Upton Sinclairs Geschichte aufbereitet, dass es weniger mäandert und sich vor heiklen Szenen nicht drückt. Eine Adaption von Upton Sinclair sollte mehr bieten als nur die sichtbare Oberfläche. Gerne würde ich sehen, wie Kristina Gehrmann die Möglichkeiten des Mediums in Zukunft mehr ausschöpft. Momentan verlässt sie sich zu sehr auf das, was sie schon kann.

Sehenswerte, aber weichgespülte Adaption eines schwierigen Stoffes

Der Dschungel
Carlsen, 2018
Text und Zeichnungen: Kristina Gehrmann, nach dem Roman von Upton Sinclair
384 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 28,00 Euro
ISBN: 978-3-551-71438-1
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