Das angeblich so finstere Mittelalter soll so finster nicht gewesen sein. Vieles spricht dafür, dass erst die Neuzeit ab 1500 den Rahmen für die tatsächlich großen Verwerfungen und Katastrophen bilden konnte. Eine der größten Katastrophen in Europa war dabei sicherlich der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648, der Zeitraum, in dem Lukas Kummer seine düstere Kriegserzählung Die Verwerfung spielen lässt.
„Die meisten der 1648 Lebenden waren durch den Krieg gezeichnet“, schreibt der Geschichtsprofessor Georg Schmidt in seinem Buch Der Dreißigjährige Krieg aus der beliebten Taschenbuchreihe Beck-Wissen. „Darüber hinaus mußten sie auch ihre individuellen Erlebnisse und Schicksale – Vermögens- und Heimatverluste, Folterungen und Vergewaltigungen, Tod vieler Familienmitglieder und enger Verwandter – verarbeiten. Die auf jahrhundertelangen Erfahrungen beruhenden tradierten Verhaltensweisen waren sinnlos geworden.“ Tatsächlich wirkt Die Verwerfung, als hätte sich Lukas Kummer diese Sätze Georg Schmidts zum Anlass genommen, das Grauen des Krieges in einfachen, aber dennoch drastischen Bildern auszumalen.
Schon das Cover überzeugt mit ausdruckstarkem Minimalismus. Eine finster blickende Figur mit schwerem Gepäck vor zweifarbiger Kulisse, im Hintergrund zwei schemenhafte Häuser und Galgenbäume mit nur wenigen schwarzen Klecksen angedeutet, aber trotzdem eindeutig, mit plakativer Wirkung. Der Inhalt des Buchs ist ähnlich fokussiert und präzise. Kummer erzählt die Reise zweier Geschwister auf der Flucht und wie sie handeln müssen, um zu überleben.
Die Ältere der beiden, Johanna, ist bereits eine junge Frau, die sich als Mann kleidet und so wenigstens vorübergehend verhindern kann, vergewaltigt zu werden. Mit ihr zieht der kleine Bruder Jakob. Im Gegensatz zu seiner abgebrühten, bereits verrohten Schwester ist der kleine Jakob aber in der Lage, die Sinnlosigkeit des Geschehens zu erfassen und zu reflektieren. Dem Überleben ist die Haltung des Jungen nicht förderlich, dazu hat viel eher Johanna das Material, die nichts an sich heranlässt, was verstörend sein könnte, schon gar keine Empathie. Für eine Erfrierende, die aus Verzweiflung ihre eigenen Zehen aufisst, hat sie nur Verachtung übrig: „Die braucht dir wirklich nicht leid zu tun. Die hat bis zuletzt ein gutes Leben gehabt. […] So wie die sich aufgeführt hat, hat die bis jetzt nicht viel vom Krieg mitbekommen. Da werden sie mal ein bisschen von der Soldateska drangsaliert und schon verliert sie ihren ganzen Mut. Anstatt sich aufzurappeln und weiterzumachen, setzt sie sich lieber in den Schnee und will sterben. Das ist doch erbärmlich, oder? Schwach ist das.“
Lukas Kummer hat den Hochmut von einer, die meint, mehr als andere leiden zu müssen, sehr genau getroffen. Auch für die Bauern, denen die Soldaten schrecklich zusetzen, hat seine Figur kein Mitgefühl: „Die Bauern sind die Schlimmsten. Das hat der Vater schon gesagt.“ Das grenzt an magisches Denken, dass alles einen Grund hat und jeder, wie stark er auch leidet, das erhält, was ihm zusteht. Aber Hand aufs Herz: Kennt man diese Haltung nicht auch als moderner Leser nur allzu gut?
Die Verwerfung ist auf verstörende Art und Weise ein Spiegel, der geeignet ist, die eigene Depression vor Augen zu führen, die aufgrund der ungemütlich werdenden Weltlage latent in jedem von uns schlummert. Kein Zweifel, dass auch der moderne Mensch von heute zu ähnlichen Schlüssen fähig ist wie die Heldin im Comic – oder, wie ihr Bruder, in die Resignation flüchten könnte. Tatsächlich spendet hier nur noch die Ablehnung jeder Form von Leben Trost. Das nenne ich niederschmetternde, düstere Lektüre.
„Die ganze Ohnmacht der menschlichen Existenz wurde in diesem Krieg greifbar und führte zu Ablenkungsprozessen wie den Hexenverfolgungen, die während des Kriegs einen traurigen Höhepunkt erreichten. […] Der Krieg hat zu massenhaften Verwerfungen aus den angestammten Lebensbahnen geführt; seine Wirkung auf die Psyche des Einzelnen kann wohl nicht überschätzt werden.“ Besser als mit diesen Worten Georg Schmidts lässt sich der Inhalt von Die Verwerfung kaum kommentieren.
Eine niederschmetternde, hoffnungslose und bedrückende Erzählung, die trotz ihres historischen Settings verstörend zeitnah wirkt.
Zwerchfell, 2015
Text und Zeichnungen: Lukas Kummer
120 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 20 Euro
ISBN: 978-3943547252
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