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Das Echo der Städte

„Die Geheimnisvollen Städte“ von François Schuiten und Benoît Peeters zu erkunden, ist ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang und erweist sich zudem als höchst mühsame Textarbeit. Das Echo der Städte ist kürzlich neu aufgelegt worden.

Alle Abbildungen © Schreiber & Leser Verlag

Beim Echo der Städte handelt es sich um eine fiktive Monatszeitschrift (zur Erläuterung: das Twitter des 20. Jh.), die sich der Kultur, Gesellschaft und Politik der „Geheimnisvollen Städte“ widmet. Hinter diesen verbirgt sich einerseits eine fiktive Geographie, geprägt von so exotischen Namen wie Urbicand oder Brüsel. Anderseits versteht man unter den „Geheimnisvollen Städten“ vor allem das lose verknüpfte und vielbändige Werk von François Schuiten und Benoît Peeters, die in sehr unterschiedlichen Formaten von diesen Städten erzählen. Charakteristisch für die Reihe, an der die beiden Künstler seit 1982 gemeinsam arbeiten, ist eine unserer Wirklichkeit leicht entrückte und zugleich völlig entfremdete Storyworld: Wer Brüsel mit Brüssel verwechselt, ist ebenso auf dem Holzweg wie derjenige, der die Namensähnlichkeit völlig ignoriert. Die beiden verwenden die Realität als Spolien für ihre Fiktionen, und dies spiegelt sich auch in der komplexen Publikationsgeschichte.

Die Geheimnisvollen Städte

Zunächst: Wer das Echo der Städte richtig verstehen möchte, sollte in die Bibliothek gehen (zur Erklärung: das Google des 20. Jh.). Der Band erschließt sich inhaltlich zwar mehr oder weniger auch ohne Kenntnis der anderen Bände, aber er entfaltet längst nicht die Faszination, die er für Ortskundige der „Geheimnisvollen Städte“ bereithält. Neben den zehn erzählenden Comics gibt es drei pseudo-enzyklopädische Comics.

Der Archivar (1987) war der erste Versuch von Schuiten und Peeters, die Welt der Geheimnisvollen Städte in großen Sprüngen abzuschreiten. Roland Mietz und Volker Hamann bezeichnen den Band in der Reddition #65 (2017) als „erste Gesamtkonsolidierung des Projektes Les Cités Obscures“. Demselben pseudo-enzyklopädischen Prinzip verpflichteten sich später Das Stadtecho (1991, 2021 als Das Echo der Städte) und der Führer durch die Geheimnisvollen Städte (1990–91).

24 Seiten des Stadtechos erschienen bereits zwischen März 1991 und April 1992 in (A Suivre), und 1993 veröffentlichten Schuiten und Peeters bei Casterman eine Buchausgabe, die kurz darauf (1994) auch auf Deutsch bei Egmont-Ehapa (noch unter dem Label des gerade übernommenen Rainer Feest Verlags) im unhandlichen Monumentalformat von 30×40 cm erschien. Es folgte eine französische Neuausgabe 2001 (erneut 2010), im Format verkleinert und im Detail verändert. Auf der Webseite der „Geheimnisvollen Städte“ wird die Casterman-Ausgabe von 2010 mit 72 Seiten (also mit 16 zusätzlichen Seiten) veranschlagt, die mir unbekannt sind. Dass auch internationale Bibliothekskataloge diese mysteriöse Ausgabe nicht zu kennen scheinen, mag darauf hindeuten, dass Schuiten und Peeters uns Leser*innen hier auf Recherche in die Anderwelt zu schicken versuchen.

Seit Juli 2021 können auch deutsche Leser*innen die aktualisierte Ausgabe (frz. 2001 & 2010 kennen lernen. Besonders erfreulich ist dies, weil die Feest-Ausgabe natürlich längst vergriffen ist.

Um in den Kosmos einzusteigen, stehen uns also neben einer Webseite oder der hervorragenden Monographie von Jan Baetens (Rebuilding Story Worlds. The Obscure Cities by Schuiten and Peeters, 2020) mehr als ein Dutzend mühsam miteinander verflochtene Comics zur Verfügung, in verschiedenen Ausgaben, überarbeiteten Auflagen und konkurrierenden Übersetzungen. Wo soll man anfangen und mit welchem Ziel?, die

Wer die Original- und die Neuausgaben gegeneinander ausspielen, ja wer überhaupt von einem Original sprechen möchte, hat die Gesetze der Geheimnisvollen Städte noch nicht verinnerlicht. Natürlich unterscheiden sich die beiden deutschen Ausgaben voneinander, so wie die zwei Welten der Geheimnisvollen Städte, deren ‚Realität‘ und Anderswelt, sich ähneln, niemals aber 1:1 gleichen. Fast möchte man jede einzelne Seite der beiden Ausgaben penibel nach Abweichungen in Details untersuchen, aber was heißt ‚fast‘: So und nicht anders erkundet man die Geheimnisvollen Städte. Auch die seriellen Erstveröffentlichungen in (A Suivre) wurden für die späteren Albenpublikationen noch verändert. Und dass die neue Übersetzung von Rossi Schreiber (bzw. Resel Rebiersch) sich von der alten Übertragung durch Marcus Reinfried erheblich unterscheidet, versteht sich von selbst.

(Anmerkung: Wer über Schuiten und Peeters schreibt, darf natürlich alte Buchstabenbauwerke abreißen und neu zusammensetzen, wie in den vergangenen Absätzen geschehen, die aus einem anderen Artikel über den Archivar kopiert und nur im Detail verändert worden sind.)

Das Echo der Städte

Bei Echo der Städte (im Original L’Echo des Cités, in der dt. Ausgabe von 1994 Das Stadtecho) handelt es sich um eine Sammlung von mehr als 30 kurzen Artikeln, die sich mit Personen, Orten und Ereignissen auseinandersetzen, die in anderen Comics der „Geheimnisvollen Städte“ eine Rolle spielen. Die Fäden von Anspielungen ziehen quer durch das ganze bis dato publizierte Werk und erfordern ein ausführliches Konsultieren der anderen Bände.

Wie aus anderen Neuausgaben bekannt, haben Schuiten und Peeters Details gegenüber den Erstveröffentlichungen verändert. In dieser Neuausgabe, ganz der französischen Casterman-Ausgabe von 2001 entsprechend, fehlen das halbseitige Vorwort von Michel Ardan sowie eine Abbildungsseite, mit der die erste Ausgabe des Stadtecho endet, eine Witzseite mit Werbung und Impressum (so dass manche Pointe auf der Folgeseite nicht mehr funktioniert). Außerdem sind auf einer Seite (S. 54) Fotografien ummontiert worden. Davon abgesehen halten sich die Veränderungen anscheinend in Grenzen.

Die neue Übersetzung ist im Ton frischer und zugänglicher, büßt aber auch das nostalgische Flair ein, das die Monumentalausgabe noch hatte. „Ich übersetze teilweise sehr frei. Schuiten formuliert mitunter betulicher als meine Texte“, so die Übersetzerin Rossi Schreiber. Das moderne Lettering ist wesentlich lesefreundlicher, wenngleich die längst vergriffene Feest-Ausgabe den Charme des französischen Originals gut getroffen hatte.

„Wir sehen Comics als Unterhaltungsliteratur und nicht als den Heiligen Gral Proustscher Prägung“, so Schreiber zur Politik des Verlags. Auch manche Eigennamen weichen von der originalen Schreibweise ab (Dr. M. Elkhaim statt Dr. M. Elkaim, Stanislaus statt Stanislas). Manches Mal ist ein Blick in das Original und die alte Übersetzung hilfreich, etwa wenn von einer „ortübergreifenden Gazette“ die Rede ist. Reinfried und Reinfried übersetzten „gazette interurbaine“ verständlicher mit „überregionale Zeitschrift“. Hier die drei Fassungen der Vorrede im Vergleich:

Original (2001): „Quoi de plus ennuyeux que les éditoriaux, les manifestes et les programmes! Si esprit il doit y avoir dans ce journal, il nous semble aujord‘hui tout aussi imprévisible que la personnalité d‘un nouveau né. Ce n‘est qu‘au fil des années qu‘il purra s‘affirmer. Disons-le donc d‘un simple mot: cette gazette interurbaine voudrait chaque mois donner la parole á la jeunesse du Continent et permettre aux informations de circules librement d‘une ville à l‘autre, par delà les murailles et les frontières. Foin des discours! Place aux reportage, au divertissement et au rire!“

Reinfried & Reinfried (1994): „Gibt es etwas Langweiligeres als programmatische Artikel oder Absichtsbekundungen in Manifesten? Ob Geist und Witz sich in dieser Zeitschrift niederschlagen werden, scheint mir heute noch nicht voraussagbar, ebenso wenige voraussagbar wie die Persönlichkeit eines Neugeborenen. Das wird sich erst im Lauf der Jahre herausstellen. Ich sage daher ohne Umschweife und mit einfachen Worten: Diese überregionale Zeitschrift möchte Monat für Monat der Jugend unseres Kontinents das Wort erteilen und den Informationen von Stadt zu Stadt freien Lauf lassen, über Mauern und Grenzen hinweg. Genug der Vorrede! Geben wir Raum den Reportagen, der Unterhaltung und dem Lachen!“

Schreiber (2021): „Gibt es etwas Langweiligeres als Leitartikel, Vorworte, Manifeste? Wohl kaum. Der Geist dieser Zeitung – sollte er sich denn zeigen – ist heute so unbestimmbar wie der Charakter eines Neugeborenen. Er wird sich erst im Lauf der Zeit erweisen. Sagen wir einfach: diese ortsübergreifende Gazette soll allmonatlich der Jugend des Kontinents eine Stimme verleihen und den freien Nachrichtenaustausch von einer Stadt zur anderen, über Mauern und Grenzen hinweg gewährleisten. Zur Hölle mit den hochtrabenden Reden! Freie Bahn für Reportagen, Unterhaltung, Humor!“

Es gibt aber auch Fragen, die bestehen bleiben – so etwa, wenn die Rezension eines Buches von Dr. M. Elkaim um bibliographische Angaben ergänzt wird: Während die broschierte Ausgabe 3 Pfund kosten soll, sei die Bibliotheksausgabe („Relié ‚Bibliothèque'“) für 6,50 Pfund zu haben. „Bibliotheksausgabe“ klingt aber nach einem neu eingebundenen (wertmindernden) Exemplar, wohingegen wohl eher eine aufwändig gebundene Ausgabe einer speziellen Buchreihe gemeint zu sein scheint. Die alte Übersetzung wählte, womöglich treffender, „Leinen-Einband“. Eine Übersetzung, so zeigt sich daran, ist eben auch immer Interpretation, und die Auseinandersetzung damit bleibt spannend.

Es ist sehr erfreulich, dass das Echo der Städte nun wieder verfügbar ist, wenngleich die Neuausgabe all die anderen Originale (Original-Erstveröffentlichtung, Original-Album, Original-Übersetzung) nicht überflüssig macht. Das geht in der Welt der „Geheimnisvollen Städte“ sowieso nicht.

Ein weiteres Original

7von10Das Echo der Städte
Schreiber und Leser, 2021
Text und Zeichnungen: Francois Schuiten, Benoît Peeters
Übersetzung: Resel Rebiersch (d.i. Rossi Schreiber)
56 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 22,80 Euro
ISBN: 978-3-96582-062-3
Leseprobe

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