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Beatrice

Eine Großstadtgeschichte über die Träume kleiner Leute – in Beatrice schildert Joris Mertens ohne Worte die Geschichte von Beatrice.

Alle Abbildungen © Splitter Verlag

Beatrice ist in einem großstädtischen Luxuskaufhaus als Verkäuferin angestellt. Handschuhe, Portemonnaies, Ledergürtel. Waren präsentieren, Kartons tragen, nichtssagend lächeln. Und nach dem Feierabend, wenn sich die Türen des gleißend hellen Kaufhauses schließen, müssen die Menschen wieder raus in die Kälte der Stadt. In ihrer spärlichen Freizeit liest Beatrice gern Romane, etwa von Françoise Sagan oder Erich Maria Remarque. Sie lebt mit zwei Katzen in einer kleinen Zweizimmer-Dachgeschosswohnung irgendwo am Rande der namenlosen Großstadt, und wenn man ihren Alltag so verfolgt, verbringt viel Zeit damit, ihren täglichen Arbeitsweg durch die Metropole zu bewältigen.

In diesem Gewusel erkennen wir Beatrice allein aufgrund der Farbgebung – ein Pendler-Alptraum vor schönen Kulissen.

Menschenmassen kreuzen die Straßenbahnschienen, überqueren die Brücken, fluten den Bahnhof und die Züge. Wie eine Ameisenkolonie krabbeln die kleinen Wesen durch die Stadt, gleichermaßen individuell gezeichnet und doch ununterscheidbar schon angesichts der puren Masse ähnlicher Gestalten. Und die graue Farbgebung verstärkt den Effekt, dass diese Menschenmenge keine Individuen zu kennen scheint. Mit einer Ausnahme, denn Beatrice sticht durch ihren roten Mantel hervor, und nur rote Elemente werden von Joris Mertens überhaupt farblich betont.

Eine rote Tasche weckt Beatrices Aufmerksamkeit auf dem Weg zur Arbeit. Als sie auf dem Heimweg immer noch dort steht, nimmt sie sich an sich – und bricht damit aus ihrem Alltag aus.

Wir erfahren nicht viel über die Welt, in der Beatrice lebt, denn es handelt sich um einen stummen Comic, und so sind alle Informationen auf die Bilder beschränkt. Die Handlung spielt in einer europäischen Großstadt, in der Französisch gesprochen wird, irgendwann in der jüngeren Gegenwart.

Die Welt präsentiert sich uns in überwiegend großen Panels, meist nur 1 bis 4 Panels pro Seite, so dass die detailfreudigen Zeichnungen voll und ganz zur Geltung kommen. Zwar sind die Panels „stumm“, aber die Stadt spricht dennoch durch ihre verschwenderischen Werbereklamen zu uns, schreit uns geradezu an. Nur sagen tun uns die Worte dennoch nichts. Sinnlose Werbung halt.

Eine anonyme Großstadt, die nur Lärm, aber keine Gespräche zu kennen scheint. Nur die aufdringlichen Reklametafeln sprechen zu den Menschen.

Das Kaufhaus, in dem Beatrice arbeitet, wird von dem Rotton dominiert, der sie selbst hervorhebt, und zugleich ist dies die maximale Übersteigerung des Konsumfetischs, den die Stadt von ihren Dächern und Schaufenstern predigt. Und dennoch erfüllt die Arbeit Beatrice doch immerhin zum Teil mit Sinn, so suggeriert ihr fröhlicher Gesichtsausdruck im Verkaufsgespräch. Aber kaum lässt sie die Tore dieses Kaufhauses hinter sich, hat sie auch keinerlei Kommunikation mehr, sondern nur noch ihre Lektüre. Und ihre Katzen.

Nachdem das erste der vier Kapitel sich dem „Kaufhaus“ widmet, entdeckt Beatrice im zweiten Kapitel das „Album“. In einer knallroten Tasche mitten in der Stadt steht ein Beutel, der ein altes Foto-Album enthält. Die Fotos zeigen ein junges Paar Ende der 1920er Jahre, und wir sehen rasch, dass sie sich mit der Frau durchaus zu identifizieren wünscht. Dass die beiden wie Zwillinge aussehen, macht es ihr auch einfach.

Sie sucht die Orte auf, die sie auf den alten Fotografien wiedererkennt, aber viele der prächtigen Etablissements haben die Jahrzehnte nicht überstanden. Eine Eisbahn ist inzwischen einer Baustelle gewichen, ein stilvolles Kino einem Kaufhaus mit reichlich Bling-bling. Fast scheint es, als wäre diese hoffnungsvolle Zeit endgültig vorbei. Aber aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei.

Der dritte Ort, den Beatrice aufsucht, ist das Café Faust, und während sie auf demselben Platz sitzt, an dem Jahrzehnte zuvor der Mann aus dem Fotoalbum gesessen hat, verwandelt die Welt sich in einer vergangene Zeit. Passenderweise weicht nun auch die Farbe aus den Panels. Alles nur ein Traum? Eine schwärmerische Phantasie unter Alkoholeinfluss? Oder eine Erinnerung?

Mertens ist sehr geschickt darin, der Geschichte gerade das rechte Maß an Offenheit zu gewähren, so dass doch einige Fragen übrigbleiben und eine erneute Lektüre lohnenswert ist. Das ist aber eh der Fall, weil seine Zeichnungen, selbst bisweilen an ein Foto-Album erinnernd (etwa wie Shaun Tans The Arrival), einfach hinreißend sind. Wie schon in Das große Los (hier rezensiert für Comicgate) lässt Mertens mit großer Präzision und schönen Lichteffekten eine anonyme Großstadt aus dem Nichts entstehen.

Überhaupt ist seine Darstellung von Räumen, aus immer wechselnden Perspektiven und aufgeladen mit verschiedenen Bedeutungen, durchweg fesselnd, so dass die unspektakuläre Story am Ende ein Feuerwerk an einfühlsamen Ideen ist. Und sein Einsatz der Farben, rot als Attribut von Beatrice (und der Vergangenheit), grau als Merkmal der Stadt – und natürlich sein Einfall zum Ende des Buches, aber … ach, lest es einfach selbst, es lohnt sich!

Stumm, aber vielsagend

9von10Beatrice
Splitter Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Joris Mertens
Übersetzung: Axel Rothkamm
112 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-98721-143-0
Leseprobe

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