In Zeiten, wo Fake News Hochkonjunktur haben, gibt es eine rebellische Comicfigur, die sich auch in politisch unsicheren Zeiten der Wahrheit verpflichtet fühlt. Gedanken zu Tom Kings Wonder Woman.
Als bekannt wurde, dass Tom King die Wonder-Woman-Reihe im Rahmen der „Dawn-of-DC“-Initiative übernehmen würde, war die Skepsis groß. King hat sich vor allem einen Namen dadurch gemacht, den Superheldenmythos auf teils drastische, teils humorvolle Weise zu dekonstruieren, indem er die psychischen Belastungen der Heldenfiguren in den Vordergrund stellt und sie beispielsweise unter posttraumatischen Stresssymptomen leiden lässt. Das hat in der Vergangenheit bei Miniserien wie Mister Miracle (2017-2019) fantastisch funktioniert, drohte bei Events wie Heroes in Crisis (2018-2019) aber auch zu einer Art Masche zu werden. King schien sich thematisch festgefahren zu haben: Was von vielen als „erwachsene“ Superheldencomics gefeiert wurde, ließ andere angesichts all der zur Schau gestellten Verzweiflung die Augen verdrehen. Über seinen langjährigen Batman-Run (2016-2019) gehen die Meinungen dementsprechend bis heute stark auseinander.
Was macht King also mit Wonder Woman?
Tatsächlich bleibt uns die erneute „Dekonstruktion“ einer klassischen Heldenfigur diesmal erspart. Stattdessen nähert sich King seiner Heldin geradezu behutsam an und lässt den Respekt gegenüber ihrer langen Geschichte auf jeder Seite durchscheinen. In den Interviews, die er vor dem Start der Reihe gegeben hat (vgl. z. B. hier), wird deutlich, dass sich King sehr viele Gedanken über seinen Zugang gemacht hat: Während Batman jemand sei, der den Status Quo erhält und Superman den amerikanischen Traum verkörpere, sei Wonder Woman jemand, die gegen das System aufbegehrt. Durch diesen Ansatz gewinnt die Story automatisch an politischer Brisanz, zugleich wird Wonder Woman – die sich nicht selten mit mythischen Kreaturen und dem Who-is-Who des griechischen Götterpantheons herumschlagen muss – auf eine Weise geerdet, die sie für neue Leserinnen und Leser zugänglicher macht. Der Feind ist diesmal kein Gott, sondern die amerikanische Regierung.
King, der früher selbst beim CIA gearbeitet hat, präsentiert uns einen Wonder-Woman-Comic, der sich wie eine Spionagestory liest. In einer Bar kommt es zu einer Auseinandersetzung, bei der eine Amazone, deren Identität zunächst noch im Unklaren bleibt, 19 Männer zu Tode prügelt. (Mit einem Augenzwinkern nennt King diese Bar „Kanigher’s Cues“, ein Verweis auf Wonder-Woman-Autor Robert Kanigher, dem man aus heutiger Sicht vorwerfen kann, viele feministische Botschaften der ursprünglichen Reihe in den 50er Jahren zurückgeschraubt zu haben.) Anhand des medialen Echos, das dieser Fall auslöst, richtet sich die Stimmung im Land also gegen jenes Amazonenvolk, zu dem auch Wonder Woman gehört. In Anlehnung an The Dark Knight Returns (1986) werden die Fernsehdiskussionen in mehreren Panels pro Seite angeordnet, allerdings wirken sie weniger satirisch als in Millers bahnbrechendem Batman-Comic. King scheint es hier nicht um Medienkritik per se zu gehen, er nutzt die Fernsehpanels schlicht als elegantes narratives Tool zur Komprimierung der Ereignisse. Umgesetzt werden diese und andere erzählerische Kniffe vom exzellenten, in seiner Detailliertheit an Jim Lee orientierten, Artwork Daniel Samperes.
Seitdem Diana von ihrer Heimat Themyscira aufgebrochen ist und ihre Identität als Wonder Woman angenommen hat, haben sich einige Amazonen in den USA angesiedelt und werden nun radikal angefeindet. Aufgrund des in Windeseile beschlossenen „Amazonensicherheitsgesetzes“ kommt ein Spezialkommando unter Sergeant Steel zum Einsatz, welche die verbleibenden Amazonen deportieren soll – und dabei auch vor Mord nicht zurückschreckt. In einer besonders grausamen Szene wird eine Amazone vor den Augen ihrer Familie erschossen. Das breite Grinsen Sergeant Steels in Anbetracht des toten Körpers macht deutlich: Hier haben wir eine neue Schurkenfigur vor uns, die weitaus monströser ist als bisher angenommen. Der Sergeant mit der metallischen Hand tauchte in DC Comics zwar immer wieder auf (etwa im Zusammenhang mit der Geheimorganisation „Checkmate“), blieb aber stets Statist. Bei King wird er zum Gesicht staatlichen Terrors schlechthin. Noch bevor ihm Wonder Woman seine Grenzen aufzeigen kann, ist aber bereits klar, dass hinter Steel und seinem Staatsapparat eine weitaus bedrohlichere Macht die Fäden zieht. Dem mysteriösen „Souverän“ – einer schattenhaften Figur, welche die Geschicke der Welt mit einem „Lasso der Lügen“ zu lenken scheint – sind die Amazonen ein Dorn im Auge. Wonder Woman merkt bald, dass sie einer gewaltigen politischen Verschwörung auf der Spur ist.
Eingerahmt wird diese Geschichte von einem Vorausblick in die Zukunft, der in Kings Beitrag zur 800sten Jubiläumsausgabe von Wonder Woman vorbereitet wird und ebenfalls im vorliegenden Panini-Band abgedruckt ist. Darin treffen Damian Wayne (Batmans Sohn) und Jon Kent (Supermans Sohn) auf Trinity, die Tochter Wonder Womans. Während die meisten Leserinnen und Leser mit Damian und Jon vertraut sein dürften (etwa durch Peter J. Tomasis großartige Miniserie Super Sons von 2017), ist Trinity eine Erfindung Kings. An einer Stelle nennt sie ihren vollen bürgerlichen Namen: Elisabeth Marston Prince. Damit referenziert King die beiden Schöpfer von Wonder Woman – William Moulton Marston und seine Ehefrau Elisabeth Holloway – wobei „Prince“ auf den Nachnamen von Wonder Womans ziviler Persona Diana Prince verweist. Gemeinsam mit ihren beiden Superheldenkollegen versucht sich Trinity anhand dreier mythischer Prüfungen Einlass in eine Höhle zu verschaffen. Darin trifft sie in einem dunklen Kerker auf den Souverän, der ihr die Geschichte davon erzählt, wie ihre Mutter zur Staatsfeindin Nummer 1 wurde.
Die Rahmenhandlung stellt für viele wahrscheinlich einen der Schwachpunkte des Bandes dar. Obwohl als völlig neue Figur eingeführt, nimmt uns Trinitys erster Auftritt nicht unbedingt für sie ein. Sie verspätet sich, kommandiert ihre männlichen Kollegen herum, ist um keine Antwort verlegen, wirkt dadurch aber auch ein wenig arrogant. („Ernsthaft. Wie kriegt man euch Jungs dazu, mal was richtig zu machen?“) Außerdem ist man als Leserin und Leser zunächst verwirrt: Was hat es mit der Höhle auf sich? Warum wollen die drei hinein? Wie funktionieren die drei Prüfungen von Schmerz, Geschick und Ehre? usw. Hier braucht man ein bisschen Geduld, um herauszufinden, wohin sich die Episode in der Höhle im Laufe der Reihe noch entwickeln wird. Auch eine der brennendsten Fragen, nämlich wer Trinitys Vater ist, bleibt uns King in diesem ersten Band noch schuldig. In den US-Einzelausgaben bekommen wir anhand von humoristischen Kurzgeschichten zumindest einen Einblick in Trinitys Kindheit, diese sind nur leider im Panini-Band nicht enthalten.
Die eigentliche Stärke der Rahmenhandlung besteht nicht darin, die Leserschaft sofort mit allen wichtigen Informationen zu versorgen, sondern darin, sich der eigentlichen Handlung über Rückblenden und aus der Perspektive des Souveräns anzunähern. Warum ist diese Perspektive „von außen“ so entscheidend? Sie deutet an, dass Wonder Woman als Figur nicht einfach für sich steht, sondern wesentlich mit den Geschichten zusammenfällt, die man sich von ihr erzählt. Batman und Superman haben Ursprungsgeschichten, die ihren Charakter definieren: Der Mord an seinen Eltern prägt den jungen Bruce Wayne dermaßen, dass er dem Verbrechen den Kampf ansagen muss. Der junge Clark Kent wächst in der behutsamen Atmosphäre des ländlichen Kansas auf, wobei ihn seine (Zieh-)Eltern mit grundlegenden moralischen Werten vertraut machen. Während diese Herkunftsgeschichten fest im Kanon verankert sind, wurden Wonder Womans Ursprünge immer wieder geändert und blieben dadurch ständig offen für Neuinterpretationen. In einer Schlüsselpassage nimmt King darauf Bezug, wenn er den Souverän sinnieren lässt:
„Doch sie war keine Normalsterbliche. Sie war eine Amazone. Geformt aus Ton. Und Stahl. Jaja, wissen wir. Wir sind alt, nicht taub. Wir haben auch die andere Geschichte gehört. Die von der Königin, dem Gott und dem geheim gezeugten Kind. Wie in jeder guten Fabel steckt sicher auch darin ein Körnchen Wahrheit. Und wie in jeder guten Fabel besteht sie im Kern garantiert aus einer Lüge.“ (Wonder Woman, Dawn of DC 1, Übersetzung: Ralph Kruhm)
Worauf King hier anspielt, sind zwei der prominentesten Interpretationen von Wonder Womans Ursprung: Zunächst soll Diana von ihrer Mutter, der Königin Hippolyta, aus Ton geformt und dann von den griechischen Göttern zum Leben erweckt worden sein. Dieser Ursprungsmythos wurde durch Brian Azzarello während DCs „New 52“ insofern revidiert, als sich Diana nun als Tochter des griechischen Göttervaters Zeus herausstellt. Oberflächlich betrachtet, deutet King hier einfach an, dass Dianas Entstehung aus Ton nicht vom Tisch ist. Dringt man jedoch tiefer in den Wonder-Woman-Mythos vor, stellt sich heraus, dass es den einen Ursprung – so wie jede Fabel „ein Körnchen Wahrheit“ beinhalten oder „im Kern aus einer Lüge“ bestehen mag – vielleicht gar nicht gibt, im Gegenteil: Diana entsteht durch die ständigen Neuinterpretationen immer wieder aufs Neue. Anders als die meisten Superhelden, die durch genau definierte Erfahrungen zu denen wurden, die sie sind, steht Wonder Womans Identität mit jeder weiteren Geschichte, die man sich von ihr erzählt, neu zur Disposition. Das hat damit zu tun, dass Wonder Womans Antrieb, die Welt zum Besseren zu verändern, nicht in irgendeiner psychologischen Motivation zu suchen ist, die sich aus vergangenen Erfahrungen speist. Ihre Motivation besteht einzig in der Wahrheitssuche. Mit ihrem Lasso, das diejenigen zwingt, die Wahrheit zu sagen, die davon gefesselt werden, ist sie die Philosophin unter den Superhelden. (Es ist kein Zufall, dass die Philosophie laut Platon mit dem Staunen – oder eben: „to wonder“ – beginnt!) Gerade deswegen, weil sich Wonder Womans Ursprung ständig umdeuten lässt, existiert dieser Drang zur Wahrheitssuche – die Notwendigkeit der Interpretation ist ihr Motor und Daseinsberechtigung zugleich.
Die besten Autorinnen und Autoren, die sich mit Wonder Woman beschäftigt haben, haben genau das verstanden. Zuletzt bewies Greg Rucka in seinem phänomenalen Wonder-Woman-Run (2016-2017) Gespür für diese komplexe Figur: Dianas Bemühungen, in ihre Heimat Themyscira zurückzukehren, werden parallel zu Rückblenden in ihre Kindheits- und Jugendjahre unter dem Amazonenvolk erzählt. Die Insel Themyscira gerät so zur Allegorie, zu jenem mythologischen Ort der Wahrheit, den es vielleicht nie gegeben hat, nach dem wir aber nicht aufhören können, zu suchen. Die Tatsache, dass sich Diana ontologisch so schwer feststellen lässt, spiegelt sich nicht zuletzt in ihrer stets im Unklaren bleibenden sexuellen Ausrichtung wider – eine Ambivalenz, die Rucka durch den Fokus auf ihren „queeren“ Status bewusst verstärkte (wie man hier nachlesen kann).
Wo Rucka Wonder Woman auf eine kontemplative, quasi metaphysische Reise schickte, holt sie King wieder ein bisschen mehr auf den Boden der Tatsachen zurück. Auch in seiner Interpretation ist Wonder Woman auf der Suche nach Wahrheit – nur eben im Gewand eines Spionagethrillers, bei dem es darum geht, die Hintermänner einer politischen Verschwörung aufzudecken. Ihr Gegenspieler, der Souverän, bildet mit seinem „Lasso der Lügen“ quasi ein philosophisch-politisches Gegenstück zu Wonder Womans Wahrheitsansinnen. Er benützt seine Kräfte für Manipulation, Täuschung und Machtmissbrauch. Ob King etwas aus dem Umstand machen wird, dass es auch der Souverän selbst ist, der die Geschichte erzählt, lässt sich nach der Lektüre der ersten Storyarc noch nicht absehen. Es bleibt aber zu vermuten, dass es sich beim Souverän um einen unzuverlässigen Erzähler handeln könnte, der seine eigenen Zwecke verfolgt: „Wie jede gute Fabel, besteht sie im Kern aus einer Lüge“ – wir nehmen ihn beim Wort.
Tatsache ist, dass auch King mit seinem neuen Take zu Wonder Woman nicht umhinkann, ihre Ursprungsgeschichte noch einmal aufzurollen – ein weiterer Beleg dafür, wie eng Wonder Womans Wahrheits- und Gerechtigkeitssinn mit der Suche nach ihrer Identität verknüpft ist. An dramaturgischen Höhepunkten montiert King aktuelle Szenen mit Szenen aus Wonder Womans Vergangenheit ineinander: Etwa da, wo Diana ihrem ehemaligen Geliebten Steve Trevor gegenübersteht und zugleich in der Arena kurz vor einer Prüfung durch eine Amazonenkriegerin. Ähnlich wie bei Rucka läuft die Aufklärung über Geschehnisse in der Gegenwart parallel zu Offenbarungen aus der Vergangenheit.
Was bleibt also von diesem ersten Eindruck, den Kings Wonder Woman hinterlässt? Es bleibt eine äußerst spannende Story, die ungleich anderen „Dawn-of-DC“-Titeln (vgl. hier) auch perfekt für Neueinsteiger geeignet ist. Das Schöne an Wonder Woman ist, dass ihre Geschichte immer wieder erneut erzählt wird, ja, erzählt werden muss. Ob speziell Kings Version dieser Figur als rebellische Wahrheitssuchende in Anbetracht der jüngsten US-Wahlergebnisse besondere Brisanz gewinnt, sei hier dahingestellt.
Panini, 2024
Text: Tom King, Zeichnungen: Daniel Sampere
Übersetzung: Ralph Kruhm
176 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 23,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-3769-8
Leseprobe