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Gott ist queer – Rachel Pollacks Doom Patrol

Gott ist queer! Rachel Pollack zeigt uns in ihrer Doom-Patrol-Erzählung von 1993 bis 1995 anschaulich, wie relevant die umstrittenste Äußerung des Kirchentags 2023 tatsächlich ist.

Alle Abbildungen © DC Vertigo. Panel aus Doom Patrol #78. Artwork: Ted McKeever.

Rachel Pollacks kurze, aber erstaunliche Karriere als Autorin für DC Comics begann einige Monate vor ihrem ersten Doom-Patrol-Heft.  In #57 erschien ihr erster Leserbrief, in dem sie schreibt: „Someone once told me that most comics writers started out writing letters.“ Sie gibt darin das weird fangirl und wirft ein paar absurde Plot-Ideen in den Ring für den Fall, dass sie Autorin werden sollte. In #59 findet sich bereits ihr zweiter Leserbrief, „Thanks for printing my letter. I mean, it’s a start, right?“, zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Grant Morrison das Heft nicht mehr lange schreiben sollte. Ein Monat später (#60) kam der dritte Leserbrief von Rachel, den der verantwortliche Redakteur Tom Peyer mit einem entschiedenen „No Rachel, you’re not going to write DOOM PATROL“ beantwortet. Fast schon auffällig.

Am Ende der Leserbriefkolumne von #60 steht in einer kleinen Box „NEXT: More Grant“, darunter eine weitere Box, „THE MONTH AFTER THAT: Still more Grant“, und noch eine dritte Box, wo steht „THE MONTH AFTER THAT: Even more Grant. See? It’s way to early to get upset.“ Das war schon ein sehr deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl, dass etwas im Busch war, dass man mit ziemlicher Berechtigung upset sein durfte und dass Editor Tom Peyer sich inzwischen recht lustvoll als unzuverlässiger Autor in Szene setzt. Mit Doom Patrol #64 – Überraschung – war dann doch wirklich Rachel Pollack die neue Autorin von Doom Patrol. Keine schlechte Inszenierung für ihren Einstand, mit dem auch gleichzeitig das Vertigo-Imprint ausgerufen wurde und die Comic-Revolution endlich einen Namen hatte.

Wer ist Rachel Pollack?

Damals wussten wohl nur Kenner der Science-Fiction-Szene, dass sie es mit der Preisträgerin diverser SF-Awards zu tun hatten, darunter der Nebula Award und der Arthur C. Clarke Award, Tarot-Fans kannten vielleicht ihre Bücher über Tarot. (Tatsächlich wohnt hier ganz in meiner Nähe eine Freundin, die einige Tarot-Bücher von ihr hat; ihr ist gänzlich unbekannt, dass Rachel Pollack als Verfasserin von Comics bekannt ist). Schürft man etwas tiefer, erfährt man, dass Rachel eine weltweit anerkannte, akademisch fundierte Expertin für Tarot ist.

Ob es beim Verständnis des Phänomens Rachel Pollack hilfreich ist, zu wissen, dass sie 1947 als Sohn des Regisseurs Sidney Pollack das Licht der Welt erblickt hat? Ihre Transition erfolgte in den 1970er Jahren – oder sollte ich besser von Geschlechtsangleichung sprechen? In ihrem Essay „Trans Central Station“ von 2019 legt sie anschaulich dar, wie viele Begriffe zum Thema „Transgender“ inzwischen überholt und wie viele Begriffe seither neu dazugekommen sind.

Aus „Rachel Pollack: The Beatrix Gates“. Oakland, 2019.

So viele Begriffe, und alle sind sie doch nur je eine Annäherung an ein Phänomen, das mit Worten nicht zu fassen ist. Pollack schreibt in ihrer autobiografischen Short Story „Trans Central Station“, wie Versprachlichung oft Potemkinsche Dörfer generiert, die Bedeutung suggerieren, während die Realität aber nur unzureichend abgebildet wird. Mit unzähligen Gleichnissen und Beispielen veranschaulicht sie, wie Transgender schon immer Teil der Natur war und amüsiert sich dabei bitter über die festgefahrenen Vorurteile gerade der „modernen“ Zeit: „They saw me, and people like me, as something akin to creations of mad scientists (I am not exaggerating, believe me).“

In der Doom-Patrol-Geschichte um den „Master Cleaner“ (#68–69) nimmt sie die Unzulänglichkeit von Begriffen und Sprache, ohnehin schon immer eines der wiederkehrenden Motive der Reihe, aufs Korn. Als wäre es eine Korrektur der „Decreator“-Storyline von Grant Morrison, verschwinden willkürlich Dinge von den Comicseiten, ersetzt werden sie durch Worte auf einem Zettel, ganz gemäß dem semiotischen Dreieck, das den Unterschied zwischen einem Gegenstand und dem etablierten Zeichen dafür veranschaulicht.

Man sollte dabei nicht vergessen, dass auch das zuvor noch sichtbare, gezeichnete Bild eher eine Annäherung an die ursprüngliche, diffuse Vorstellung dieses Gegenstands war, bevor die Zeichnerin Medley daraus eine relativ willkürliche Konkretisierung umsetzte. So gesehen ist die Rückkehr zum Begriff eine Wiederherstellung des ursprünglichen Potenzials, entzieht ihm gleichzeitig aber die Vitalität, die erst durch die Realisierung hergestellt werden kann.

Die Pointe der Geschichte ist, dass der Verantwortliche, der sogenannte „Master Cleaner“, der die Begriffe von falschen Zuweisungen reinigt, von einem ganz speziellen Superhelden besiegt wird, dessen Gabe es ist, sich stetig neu zu erfinden: mal als „the incompetent mother“, dann „the compasssionate policeman“, später „the master piece“ (nicht zu verwechseln mit masterpiece), zuletzt dann als „the false memory“. Als False Memory gelingt es ihm, den Master Cleaner mit Wunschvorstellungen einzulullen, bis er ganz handzahm ist und keine Gefahr mehr darstellt.

Crawling from the wreckage

In Grant Morrisons Doom Patrol fühlte sich Rachel Pollack schon als Leserin immer besonders gut aufgehoben. Sie schätzte diese Reihe über Außenseiterfiguren, in der so viel angesprochen wurde, das sie selbst beschäftigte und sie mochte das erzählerische Potenzial der Figuren, das teilweise ungenutzt blieb und mit dem sie so gerne selbst arbeiten wollte:

Cliff Steele: Der Roboter mit menschlichem Gehirn, der seinem männlichen Körper nachtrauert.

Professor Niles Caulder: Der eiskalte Wissenschaftler im Rollstuhl. Am Ende von Grant Morrisons Run wurde Caulder vom Candlemaker der Kopf vom Rumpf getrennt.

Rebis, der Mann und Frau in sich vereinigt: Da die Verschmelzung durch ein Unglück forciert ist, ist Rebis, wie manche der X-Men, ein typischer Stellvertreter und potentielles Einfalltor für queere Ideen, ohne zu sehr „in your face“ zu sein. Rachel Pollack hatte kein Interesse daran, diese Figur noch zu vertiefen und entschied sich für einen neuen Ansatz.

Dorothy Spinner: Das Mädchen mit dem Affengesicht, das aus Frustration über sein Äußeres mächtige imaginary friends ins Leben rufen kann.

Danny the Street: Ein Crossdresser, der sich gerne als Straße in Szene setzt, in der queere Wesen keine Angst vor Verfolgung haben müssen. Aber auch Danny war keine wichtige Figur mehr für Rachel Pollack.

Dorothy Spinner’s imaginary friends. Doom Patrol #68, Linda Medley.

Sliding in the wreckage

Es war in den frühen 1990er Jahren durchaus gängig, dass der Autor einer langlebigen Serie seinen Run mit einem großen Knall beendete, beispielsweise dem symbolischen Tod einer Figur, so dass der Nachfolgeautor den nächsten großen Run mit einer Art Wiedergeburt neu starten konnte. Gerade bei der Doom Patrol war das programmatisch, denn sowohl die Urserie aus den 1960ern als auch die erste Season des Relaunches der 1980er endete je mit dem Tod fast aller Hauptfiguren. Grant Morrison setzte diesen Reigen lediglich konsequent fort, so dass sein Abschlussheft #63 als großes Finale gelten konnte, aber nicht zwingend musste. Es waren nur wenige Figuren tatsächlich tot, aber die Doom Patrol war zerfallen und jede Figur hatte ihr persönliches Happy End gefunden.

Rachel Pollacks Erneuerung beginnt mit Cliff Steele, dessen Gehirn vom Candlemaker im großen Endfight zwar zerstört wurde, dessen Bewusstsein aber mithilfe eines digitalen Backup wiederhergestellt werden konnte. Statt dem Trugbild eines auf Festplatte gespeicherten Bewusstseins Vertrauen zu schenken, bringt Rachel Pollack Cliff Steele in ihrer ersten Storyline sein menschliches Gehirn zurück, das ihm magische Wesen, die an Dorothys grenzenloser Vorstellungswelt andocken, überreichen.

Weirdness as usual möchte man zunächst gerne meinen, aber Richard Cases eckig-abstraktes Artwork, das für Grant Morrisons Storys goldrichtig war, korrespondiert so wenig mit dem neuen Erzählstil, dass man schon fast von einem Scheitern sprechen kann. Zum Glück fand die Nachfolgerin Linda Medley schnell einen neuen visuellen Ansatz. Einerseits wirkt die Patrol bei Medley geerdeter, gleichzeitig wird der Surrealismus neu aufgefächert, am deutlichsten in der Figur des Professor Caulder, der von nun an sprichwörtlich der Kopf der Doom Patrol ist. Wurde zunächst noch angedeutet, dass Caulders Kopf in einer cryogenischen Kühlkammer gelagert sein muss, genügt zwei Hefte später bereits die Lagerung auf einem Haufen Eiswürfel. Wichtig dabei ist nur, dass der Kopf immer gut mit Flüssigkeit – bevorzugt Milchshakes – durchspült wird. So indiskutabel ich diese völlige Abkehr des Anscheins von Wissenschaftlichkeit seinerzeit 1993 fand, entfernt Rachel Pollack sich doch nicht allzu weit von den damals populären Fun-Splatter-Filmen von Sam Raimi, Peter Jackson oder Brian Yuzna. In dessen Bride of the Re-Animator flog ein böser Kopf mit Fledermausflügeln herum und attackiert die Helden, was allemal mehr Charme hatte als die Anscheinswissenschaftlichkeit der MCU-Avengers-Filme.

Neues aus der Doom-WG. Cliff hat nie wieder so gut ausgesehen. Artwork von Linda Medley. Doom Patrol #67.

Die Reduktion auf ein Dasein als Kopf kann auch als Fegefeuer als Strafe für begangene Untaten gelesen werden, wie eine Traumsequenz in #73 andeutet, eine Reise durch Niles‘ Erinnerung und dessen Konfrontation mit all denen, die durch seine skrupellosen Machenschaften auf der Strecke geblieben sind. Inzwischen ist Caulder völlig aufs Wohlwollen seiner Mitarbeiter angewiesen. Seine kalte Wissenschaftlichkeit findet ihre Grenzen, sobald ihn niemand mehr mit den Augen in Richtung Computerbildschirm dreht, nicht einmal die Tastatur kann er ohne eigene Hände bedienen. Gleichwohl sieht man ihn immer wieder selbständig mit seinem Rolltablett durch die Gegend fahren und Sprachbefehle an die Doom Patrol-Zentrale abgeben. Ganz trauen darf man dem Chief noch immer nicht.

Der Fuchs und die Krähe. Artwork: Linda Medley. Aus: Doom Patrol #71.

Der Fuchs und die Krähe

Die 90er Jahre müssen ein Jahrzehnt sprudelnder Kreativität gewesen sein, dass der epische Battle zwischen „The Fox and the Crow“ in zwei läppischen Hefte mit je 24 Seiten stattfinden konnte. 1993 ging so etwas:

Zwei Gottheiten stehen im ewigen Clinch miteinander: auf der einen Seite Foxfur, ein Gott im Fuchspelz, der seine Kämpfer im Seniorenheim rekrutiert, alles alte Kämpfer, Hippies und Bürgerrechtler, die sich freuen, noch einmal gebraucht zu werden und die aus ganzem Herzen „We shall not be moved“ skandieren. Auf der anderen Seite kämpft Madame Crowe. Sie erweckt das wilde Element der Kinder der Ortschaft, in deren Nähe die Doom Patrol sich angesiedelt hat. Seit Urzeiten schon geht dieses Duell zwischen dem Fuchs, der die Sonne verkörpert, und der Krähe, die für den Mond steht. Früher trafen sie sich einmal im Jahr, um sich ihrer Rollen zu vergewissern, den Rest der Zeit gingen sie sich aus dem Weg. Die große Leidenschaft des Fuchses ist es, unterschiedliche Seelen in Gefäßen zu konservieren, „one each of every species, every tribe, every profession“. Eines Tages jedoch fand Krähe den Zugang zur Sammlung und trank sämtliche Seelen aus. Seitdem drängt der Fuchs auf Rache.

Aber der Fuchs ist ein schlauer Fuchs: Er manipuliert Cliff Steele, indem er ihm verspricht, ihm seinen menschlichen Körper zurückzugeben, und so findet sich, wie so oft im amerikanischen Fortsetzungscomic, eine alte Story im neuen Gewand, die komplette bisherige Origin-Story, umgekrempelt und auf den Kopf gestellt. Bisher galt die Annahme, dass es Niles Caulder war, der als diabolischer Architekt des Unglücks Cliff Steeles fatalen Unfall arrangiert hat, um an ihm Experimente durchführen zu können.

Rachel Pollack legt nun eine neue Folie über diese Erzählung: Als Cliff Steele ein Kind war, wünschte er sich einen unzerstörbaren Körper. Deshalb geht der kleine Cliff auf das Angebot des schlauen Fuchses ein, der ihm verspricht, dafür zu sorgen, dass er diesen auch irgendwann erhalten wird. Mit der Zauberkraft war es dem Fuchs ein Kinderspiel, die Geschichte so zu lenken, dass Cliff Steele ein Opfer von Niles Caulders Plänen wurde: „That’s how magic works, you see.“

Cliff erinnert sich an seinen Deal mit dem Teufel. Linda Medley, Doom Patrol #70.

Somit ist Cliff Steele zunächst ein williger Champion für seinen Kampf gegen Krähe. Aber Madame Crowe rekrutiert ausgerechnet Dorothy als ihren Champion, so dass absehbar ist, dass unter dieser Konstellation der Kampf zwischen Nacht und Tag unentschieden bleiben muss, denn Cliff und Dorothy kämpfen natürlich nicht gegeneinander. So einigt man sich zuletzt, nachdem einige Federn gelassen werden mussten, darauf, die Dinge sein zu lassen, wie sie sind. Ein Waffenstillstand, mehr nicht.

Viel Lärm also um Nichts? Nicht ganz: Wir haben in der Fabel um Fuchs und Krähe gelernt, dass Fox seine alten Seelen konservieren wollte, während Krähe sie verschlingt und damit symbolisch in Neues verwandelt. Während der Fuchs den Stillstand verkörpert, verschlingt die Krähe die Sammlung des Fuchses und transformiert sie zu etwas Neuem. Denn Stillstand ist der Tod.

Das Problem mit den wilden Kindern, die irgendwann ja wieder zu ihren Eltern zurückkehren müssen, löst Krähe aber, indem sie zwei Versionen aus jedem Kind zaubert: eine brave Variante eines jeden Kindes für zu Hause (die selbst ihren Eltern bald zu langweilig werden), ein wilder Doppelgänger für die Wälder. Eine ähnliche Zauberei kennt man auch aus Jamie Delanos Animal Man. Man muss wissen, es war Winter 1993, und Doom Patrol war Bestandteil des großen Vertigo-Events „The Children’s Crusade“. Dorothy Spinner und die wilden Kinder der Krähe sollten darin eine kleine, aber interessante Rolle spielen.

Der Kreuzzug der Kinder

Es gibt wohl keine nervigere Person im amerikanischen Superheldencomic als Maxine Baker, die kleine Tochter von Animal Man, einer weiteren Vertigo-Serie. Einerseits ist Maxine gegen die Zerstörung der Natur durch den Menschen, andererseits kämpft sie dafür, dass sich auch die Tiere untereinander keine Gewalt mehr antun. Das ist natürlich kindliche Logik und entsprechend in den Comics auch kommuniziert, gerade in der Erzählung des Children’s Crusade, einem Crossover zwischen mehreren Vertigo-Serien, wird diesem Denken aber bedenklich viel Raum gegeben.

And the lion lies wies with the lamb. Maxine sollte das nicht so wörtlich nehmen. Aus Doom Patrol Annual 3. Artwork: Mark Wheatley.

In Children’s Crusade geht es darum, dass alle verfolgten Kinder der Erde in einer Art Neverland ein Paradies finden dürfen, auf das Erwachsene keinen Einfluss haben (von David Bowie gibt es dazu das perfekte Lied). Die verhaltensauffälligen Kinder des Vertigo-Universums (seltsam, aber alle Vertigo-Kinder sind verhaltensauffällig) sollen darin ebenfalls ihren Platz finden. Rachel Pollack wirft auf diese Kitsch-Projektion einen erfrischend boshaften Blick. Vermutlich war die Storyline im Großen und Ganzen bei gemeinsamen Meetings des Vertigo-Teams entworfen worden, aber Rachel Pollack hat die dankbare Aufgabe erhalten, das Wunderland mit ihren wilden Kindern aus der vorhergehenden Geschichte ordentlich aufzumischen.

Die wilden Kinder werden von den „Dead Boy Detectives“ (eine Neil-Gaiman-Kreation) mit den besten Absichten ins Kinderland geholt, aber irgendwie wollen diese sich partout nicht den Regeln des Neverlands unterwerfen: „Rules? Grownups have rules“, schmähen sie die hilflosen Versuche der braven Kinder, eine liebevolle Utopie zu entwerfen; sie ärgern sich über das kindgerechte Ambiente: „Stupid tree. It’s too easy. Trees are supposed to be hard to climb“; und natürlich haben sie für Maxine Baker auch nur Hohn und Spott übrig, als die darauf besteht, dass der Löwe beim Lamm zu liegen hat. Dorothy Spinner wiederum eckt aus anderen Gründen an. Sie ist zwar ebenfalls noch ein Kind, hat aber schon die Periode – und mit so „Frauensachen“ wollen die meisten Kinder nichts zu tun haben. Rachel Pollack versteht es meisterhaft, die hässlichen Aspekte des vermeintlichen Wunderlands freizulegen und die Utopie zu entlarven – allein dafür schon hat es sich gelohnt, diesen Umweg zu gehen, der sie von der eigentlich geplanten Storyline zumindest zeitweise weg führte.

Leider ist Rachel Pollacks Anteil in der Tradepaperback-Ausgabe des Children’s Crusade komplett herausgekürzt worden. In meinen Augen ist es dennoch der Höhepunkt dieses Crossovers, dem ich zwar mit sehr gemischten Gefühlen gegenüberstehe, das aber in seiner Konzeption doch tragfähig genug war, dass man bei allem Kitsch eine gewisse Relevanz schwer leugnen kann.

Meet Codpiece / Sex Machine / Master Blaster. Dahinter steckt auch nur ein kleines Würstchen. Artwork von Scot Eaton.

Kate Goodwin and the Sex Machine

Im Film From Dusk Till Dawn (1996) gibt es einen Mann namens Sex Machine (Tom Savini), der seine überlegene Männlichkeit dadurch zeigt, dass er eine Pistole zwischen seinen Beinen ausfahren kann. Da kann sein Konkurrent nur den Schwanz einziehen und das Feld räumen.

So ähnlich ist das mit dem Superschurken Codpiece in Doom Patrol #70, der zwischen den Beinen einen wahren Granatenwerfer hat und damit die Welt in Angst und Schrecken versetzt. Das ist seine Rache für lebenslange Demütigungen und Zurückweisungen, weil er einen zu kleinen Penis hat. Rachel Pollack schreibt hier einigermaßen unsensibel, wie der arme Incel seine Verzweiflung kompensiert, er ist ja wirklich recht klein bestückt. Lediglich einen kurzen Triumph gestattet sie ihm, als Codpiece die Ortschaft aufmischt und es in kurzen 15 Minuten allen zeigt, dann wird er von der Superheldin Kate Goodwin, aka Coagula, zurechtgestutzt: Sie verflüssigt den Penisfortsatz (und hoffentlich nur diesen – die Darstellung sieht wirklich unnötig brutal aus).

„A woman, obviously“

Kate Goodwin ist eine Computerexpertin und Teilzeitprostituierte (im Vertigo-Comic heißt das eher Sexarbeiterin), die sich ihre Superkraft einfing, weil sie Sex mit Rebis hatte – ja, eine kleine Rolle spielt Rebis aus Morrisons Doom Patrol tatsächlich doch bei Rachel. Mit Rebis hat Kate zuerst einmal die uneindeutige Gender-Zuweisung gemein. Ähnlich, aber anders, denn während Rebis gleichermaßen Mann und Frau in sich vereint, hat Kate sich schon immer als Frau gefühlt, war früher aber ein Mann. Cliff Steele, der sich anfangs recht gut mit Kate versteht, hat dafür nur wenig Verständnis.

Cliff: „Shit. What I want to know is … are you a man or a woman?“

Kate: „A woman, obviously.“

Cliff: „But you used to be a man, right?“

Kate: „No, Cliff. No, I was never a man.“

Cliff: „You had a penis, right? Maybe you chopped ist off, but you had one, right? In my book that makes you am man.“

Kate: „Really? Then what about you, Cliff? Do you have a penis? What are you?“

Also werfen sich Kate und Cliff gleich mal die schlimmsten Verletzungen an den Kopf. Kaum aber senken sich die Wogen, präzisiert Kate etwas nachsichtiger: „Just for the record, Cliff. Nothing gets actually ‚chopped off‘ in the surgery, you know. It all gets kind of reshaped. Reconstructed.“ Und damit sind wir auch schon mitten in der vielleicht wichtigsten Storyline von Rachel Pollack, das Kernstück, auf das uns die bisherigen Stories vorbereitet haben: „The Teiresias Wars“.

Ted McKeever übernimmt das Artwork. Die Szenen zwischen Cliff und Kate sind hinreißend geraten. Doom Patrol #77.

Natürlich erfährt man an keiner Stelle, ob der Zeichner*innenwechsel von Linda Medley zu Ted McKeever zum künstlerischen Konzept gehört oder einer günstigen Fügung zuzuschreiben ist, aber der freundliche Stil von Linda Medley, der gut zur WG-Atmosphäre der bisherigen Storyline passte und vor allem die Fabel von Fuchs und Krähe in wunderschöne Bilder verpackte, räumt jetzt das Feld für die krassen Abstraktionen von Ted McKeever, dessen Kunst im völligen Gegensatz zur Ästhetik Linda Medleys steht. Ted McKeever ist Anti-Ästhetik in Reinform, Punk-Ästhetik, wenn man so will. (Direkt „hässlich“ ist der Stil dabei aber nicht. Diese Zuschreibung passt objektiv allein auf die von den Pander Bros gestaltete #80, eine Art Epilog zu den Teireseas Wars.)

In „Teireseas Wars“ geht es um den ewigen Konflikt der „Teireseae“ gegen die Partei der „Builders“. In der antiken Mythologie ist der Seher Teireseas dafür bekannt, dass er sein Geschlecht wechseln konnte, was für einen allumfassenden Durchblick schon mal eine gute Voraussetzung ist. Bei Rachel Pollack stehen die Teireseae für eine „zeitlose Zeit“, bevor Geschichte, Evolution oder Schöpfung dem Dasein eine Richtung gaben. Damals, als noch nichts eine feste Form hatte, als die Übergänge fließend waren, entstanden die Teirisiae, eine frühe Form von Göttern, die das Wissen der Welt in sich vereinigte, in „Rivers of Consciousness“. Man kann sich diesen Zustand gut vorstellen, wenn man an den Kampf der Götter gegen die Titanen denkt, denn Größenverhältnisse, Naturgesetze, überhaupt Realismus, spielen ja gerade in den sehr frühen Geschichten keine Rolle. Gerade die vielen Varianten, wie in den frühen Mythen das Leben in die Welt kam, können als Veranschaulichung dienen.

Einer/eine der Teireseae aber begann, eine Sprache zu entwickeln, die aus der nicht enden wollenden Harmonie von Gesang und Bewegung ausscherte. Erste Kategorien entstanden und eine Grammatik der Sprache entwickelte sich mit all ihren Einschränkungen. Feste Definitionen, eine strenge Unterteilung in Dualitäten und Gegensätze und natürlich auch das folgenschwere Gegensatzpaar „männlich / weiblich“ bildeten sich heraus. Sprache wurde zum Instrument der Macht und der Unterdrückung. Was nicht gesagt werden kann, gibt es nicht. (Gibt es aber doch.) Dieser Abtrünnige wurde zum Gott der neuen Zeit, seine Anhänger nennen sich die Builders, die seither daran arbeiten, Kategorien festzulegen, auf ewig festzuzurren und jede Form von Fluidität und Grenzüberschreitung auszurotten – man kennt ähnliche Storylines auch aus Grant Morrisons Doom Patrol. Das großes Symbol der Macht der Builder ist der Turm zu Babel, den sie inzwischen im Inneren des Pentagons ins Innere der Erde bauen.

Nach einer langen Phase des Waffenstillstands greifen die Builders nun erneut an, denn sie wittern die Schwäche des Feindes. Es benötigt einen neuen Anstoß durch einen neuen Teireseas, um die Verteidigung wieder zu stabilisieren. Nachdem Cliff Steeles Roboterkörper im ersten Verteidigungsgefecht zerstört wird, bietet sich dafür die perfekte Gelegenheit: Cliff und Kate gehen gemeinsam das Wagnis ein und vereinigen ihre Körper zu einer Ganzheitlichkeit, mit der die alten Teirisiae wieder geweckt werden können. Die Builder werden zurückgedrängt, am Ende jedoch wollen die Teirisiae sich nicht mit einem erneuten Waffenstillstand zufriedengeben: Sie wollen die Welt der Grammatik, der Kategorien und der Ordnung komplett zerstören und den Urzustand der völligen Unbestimmtheit wiederherstellen.

Kate Goodwin, die es in ihrem Leben erreicht hat, sich allen Kategorien und Zuschreibungen erfolgreich zu entziehen und sich selbst nach ihren Vorstellungen neu erschaffen hat, gelingt es, die Alten davon zu überzeugen, dass auch die neue Welt eine Welt des stetigen Wandels sein kann. Sie verweist nicht nur auf ihren eigenes Selbst, sondern sagt den Teirisiae, dass auch Cliff und Niles Wesen der Unbestimmtheit und des ständigen Wandels sind, denn auch sie haben einerseits keine eindeutigen Körper und manifestieren sich doch stetig neu. Ebenso ist es mit Dorothy Spinner, deren imaginary friends gleichzeitig nicht real sind, andererseits aber eben doch, sowohl, da sie sich manifestieren als auch, weil diese Manifestierungen stets einen bleibenden Eindruck in der Welt hinterlassen. Alles ist im Fluss, wenn man nur daran arbeitet und die Welt nicht dem Stillstand überlässt.

Die alten Götter akzeptieren diese Ansprache und ziehen sich daraufhin zurück, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die „Zeit vor der Zeit“ für unsere Helden von nun an auf ewig verwehrt sein wird: „Actually the timeless time can be a little bit boring“, meint darauf eine weitere Teiresean lakonisch und zeigt sich über die Entscheidung der Alten gar nicht so unglücklich. „Now I’ve got a whole new world to explore.“ Spike aus Buffy the Vampire Slayer hätte es nicht besser sagen können.

Cliff und Kate mögen ihre Differenzen haben, aber sie verstehen sich außerordentlich gut. Doom Patrol #78.

Und weil der Mensch ein Mensch ist …

Rachel Pollack legt einen sympathischen Humor an den Tag, wenn sie Kate in Doom Patrol #77 die Überreste des zerstörten Cliff Steele einsammeln lässt und sich danach zwei Talking Heads gegenüber sitzen: auf der einen Seite der demolierte Kopf von Cliff Steele, auf der anderen Seite Niles in seinen Eiskübeln. Natürlich beginnt Niles sofort mit neuen Anweisungen, um Cliffs Körper zu rekonstruieren, aber Cliff legt dieses Mal ein Veto ein. Kein weiteres Mal will er der Willkür des Wissenschaftlers ausgesetzt sein. Diese Mal will er mitreden, welches Aussehen sein neues Roboterselbst haben soll:

„Look. I used to not care very much whatever body I was walking around in. It was just like artificial legs or something. It wasn’t me. But I don’t feel like that anymore. I don’t care if it’s a robot. When my brain gets connected that goddamed robot becomes me. I’ve got a chance nobody else ever gets. I can design my own body.“

Kate Goodwin gegenüber öffnet sich Cliff noch weiter. Er erzählt ihr, wie er schon früher einmal versucht habe, sich ein menschliches Aussehen zu verleihen, von einer Gesichtsmaske ist die Rede, was er aber wegen zu großer Selbstzweifel immer wieder verworfen habe. Er habe sich endlich „normal“ fühlen wollen, aber keine Ahnung, wie er das je bewerkstelligen sollte.

Für uns Leser mag das überraschend wirken, hat doch gerade Linda Medley aus Cliff einen superattraktiven Roboter gemacht, der im weißen Unterhemd eine verdammt gute Figur machte. Aber das Artwork von Ted McKeever – egal ob beabsichtigt oder nicht – hat die Tendenz, das Innenleben der Figuren zu betonen, und nun will auch Cliff – Kates Einfluss hinterlässt eben Spuren – ein Aussehen, das wirklich seinem Charakter entspricht. Sein neues Design gerät durchaus zur beeindruckenden Neuerfindung, denn Cliffs neuer Körper verleiht ihm das Aussehen einer alternden Drag Queen – gezeichnet vom Leben, aber mit einem neu erweckten Gefühl der Selbstachtung. So gerüstet begehen unsere Helden ihr Duell, erst gegen die Builder, dann gegen die Teireseae.

Meet the new Cliff.

Besser als Träumen

Lese ich heute Rachel Pollacks Doom Patrol, lerne ich einen Comic kennen, der vielleicht besser gealtert ist als das ungleich erfolgreichere Sandman von Neil Gaiman, obwohl gerade Gaiman der wohl wichtigste Wegbereiter des Vertigo-Imprints war, das in seinen Anfangsjahren mit einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit progressiv war, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Aber Neil Gaimans world building irritiert immer wieder mit einer Unbeweglichkeit, die Rachel Pollack zweifelsohne den „Builders“ zuschreiben würde.

Das zeigt sich beispielsweise in der Figur der transsexuellen Alwin in der Storyline „A Game of you“: Alwin ist eine Transfrau mit Penis, weil Alwin Angst vor der Operation hat. Neil Gaimans Sündenfall ist, als er im weiteren Verlauf der Geschichte Alwin mit Göttinen konfrontiert, die ihr die Weiblichkeit absprechen, da sie nicht menstruiert. Diese Zurückweisung ist für eine Transperson wohl die ultimative Horrorvision, weil ausgelöscht wird, woran sie so lange gearbeitet hat. In Gaimans Welt findet Alwin keinen Platz und sie bleibt fortan ausgesperrt aus der Welt wie Stephen Kings Father Callahan in Salem’s Lot, dem, nachdem er von einem Vampir gebissen wurde, der Zugang zur Kirche fortan verwehrt bleibt. (Stephen King wird diese düstere Geschichte Jahre später in The Dark Tower 5 – Wolves of Calla zu einem positiven Ende führen.) Das widerspricht fundamental den Überzeugungen von Rachel Pollack, die in Trans Central Station davon schreibt, dass der Übertritt ins neue Gender nicht weniger als der Übertritt in eine neue Dimension ist:

„Many people, including transpeople themselves at the start of their journey, may assume the port, the destination is known – from woman to man, or man to woman, or either to none – only to discover, as they set off, that the wonder of the journey may open up the world of ports, destinations, never considered or even imagined. But maybe I say this because I’m a science fiction writer. And maybe I’m science fiction writer, at least in part, because I had no choice but to break open the world and discover what ports lay hidden behind its facade.“

Ganz klar ist Neil Gaiman am kalten Horror der ultimativen Zurückweisung interessiert, während Rachel Pollack für solchen Affront kein Verständnis hat. Ihre Kate Goodwin darf ganz selbstverständlich an Ritualen teil haben, die Frauen vorbehalten sind.

Auch die Figuren aus Neil Gaimans Dreaming, allen voran Cain und Abel, sind ganz offensichtlich „Builders“-Figuren. Auf ewig sind sie in ihrem zwanghaften Verhaltensmuster erstarrt, dass Cain bis in alle Ewigkeit Abel tötet, ohne dass je Erlösung oder Wandel stattfindet. Natürlich bildet auch Neil Gaiman auf sehr interessante Weise mythisches Denken ab, aber er verfängt sich dabei sehr stark in Visionen der Hölle: Sisyphus, der auf ewig seinen Stein wälzt; Prometheus, dem, an einen Felsen gekettet, jeden Tag aufs Neue die Leber aus der Seite gepickt wird. Rachel Pollack hat sich einer schwierigeren, aber auch ergiebigeren Facette gewidmet. Sie arbeitet stetig daran, aus diesen Höllenkreisen auszubrechen. Ihre Lösung heißt stetiger Wandel.

In den letzten Heften scheint es, als würde Rachel Pollacks Story etwas die Richtung verlieren. Dorothy bekommt in #81 und #82 noch einmal einen guten Auftritt, der sie mit ihren Pubertäts- und ihren Frauenproblemen versöhnt, mit #83 folgt eine weitere, sehr schöne Geschichte, in der die False Memory einen letzten denkwürdigen Auftritt erhält. Trotz aller schönen Erinnerungen, die sie ihren Opfern beschert, lehnt die Doom Patrol die Mitarbeit von False Memory ab. Man hält nichts davon, auf schmerzhafte Erinnerungen zugunsten eines Glücksgefühls ohne Substanz zu verzichten. Wahres Glück kann nur dadurch entstehen, dass man seine Probleme selbst bewältigt und daran wächst.

Dann erhält auch Niles Caulder eine finale Geschichte und darf sich noch einmal zum Positiven entwickeln, danach war es das. Ted McKeever erschient mir zuletzt zunehmend repetitiv und uninspiriert, was die Wahl seiner Bilder angeht. Es war wohl Zeit, aufzuhören und – ja – man hat rechtzeitig die Kurve bekommen. Rachel Pollack hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, eine lange Comicserie zu stemmen. Weit wichtiger aber ist, dass ihr Run von Doom Patrol zum engen Kreis der Serien gehören, die am deutlichsten die Vision des Vertigo-Imprints  in seiner Gründungsphase repräsentiert. Rachels Doom Patrol ist eine Serie, wie sie in dieser Form wohl nur in dem kleinen Zeitfenster der frühen 90er Jahre möglich war. Gleichzeitig besteht sie den Test der Zeit. Gut möglich, dass man erst heute richtig versteht, wie visionär die Reihe damals war.

Anhang: Die Covers

Auch für den Run von Rachel Pollack hat der Künstler Tom Taggart wieder zahlreiche Covers in einer Mischung aus Skulptur und Fotokunst gestaltet. Sie tragen stark zur Attraktivität der Serie bei, deshalb sollen zumindest drei Beispiele hier abgebildet sein. Ein spooky Bild von Niles Caulder in seinen Eiskübeln, der mal  wieder nicht gefüttert wird, ein Cover, das unter anderem Foxfur und Cliffs Roboterhand zeigt, und einmal Codpiece, der die Frauenwelt in ungläubige Erregung versetzt. Man kann nur froh sein, dass Brian Bollands Versprechen, die Covers zu designen, nicht eingelöst wurde, denn Bolland hätte nie die surreale Essenz so gut einfangen können, wie Taggart das gelungen ist.

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