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Währenddessen… (KW 10)

1984: Irgendwie hab ich mich mit 12 Jahren dafür ja zu jung gefühlt. Den Video-Clip fand ich verstörend und auch meine Eltern wussten nicht, was sie davon halten sollten. Trotzdem, den Song „Sex Crime“ von den Eurythmics fand ich damals 1985 richtig geil. Jetzt, Jahrzehnte später hab ich mir die CD geholt: 1984 – For the love of Big Brother.

Die Musik, fast schon eher ein Konzeptalbum als nur ein Soundtrack, übertraf meine Erwartungen. Als ich herausfand, dass es gar nicht so leicht ist, die Filmversion mit dem Eurythmics-Score zu bekommen, schlug ich zu und kaufte mir eine der wenigen noch auffindbaren Exemplare. Heute habe ich den Film angesehen. Die Musik ist eher unauffällig und sehr dosiert eingesetzt, trotzdem passt der dezente Industrial-Sound der Eurythmics besser zu den sehr durchkomponierten Filmbildern als die eher indifferente Spannungsmusik der internationalen Version. Weltbewegend ist der Unterschied der Versionen deswegen aber nicht.

Die monochrome Optik des Films ging damals noch als innovatives Stilmittel durch und ist heute eines der wenigen unbedingt sehenswerten Beispiele in diesem Stil. 1984 bietet gnadenlose Tristesse. Die Welt ist eine Nachkriegsschuttwüste grau in grau. Kein Mensch aus der Klasse, in der sich der Held Winston Smith, Mitarbeiter des Wahrheitsministeriums, bewegt, hat auch nur irgend etwas attraktives, das er sein eigen nennt. Alles ist a) funtionell und b) dazu ausgerichtet, den großen Bruder zu verehren. Außerdem soll c) kein Mensch auf die Idee kommen, ihm stünde in irgendeiner Form Würde zu. Big Brother ist alles. Alles andere ist nichts.

Viele Worte über George Orwells 1984 zu verlieren, ist vermutlich unnötig, weil 1984 doch ein fester Bestandteil unserer kulturellen DNA ist. Als ich zum ersten Mal mit der Story in Berührung kam – also nicht nur dem Titellied – war ich etwa 19. Die Idee hinter dem doublethink und der Verdrehung von Begrifflichkeiten mithilfe von newspeak fand ich damals schon faszinierend, gleichzeitig ist es auch der Aspekt der Story, über den man länger nachdenken kann und es hat noch ein paar Jahr(zehnt)e mehr gedauert, bis mir klar war, dass „Krieg ist Frieden“ nicht einfach nur die Zersetzung von Überzeugungen bedeutet, sondern wörtlich verstanden werden muss. Ebenso „Ignoranz ist Stärke“, ebenso „Freiheit ist Sklaverei“, und ebenso ist mir heute völlig einleuchtend, dass im Wahrheitsministerium gelogen wird. Die letzten Jahre konnte man sich an Fake News und alternative Fakten ja schon gewöhnen. Das erste Opfer in unserer neuen Welt scheint mir tatsächlich die Ironie zu sein. Oder anders gesagt: Was bringt Ironie noch, wenn das ironische Theater jetzt von den Staatenlenkern aufgeführt wird? Sie sind ihre eigene Satire. Und nun? Wenigstens ist Orwells 1984 relevanter denn je.

Filmstill aus Cameron Crowes „Almost Famous“. Billy Crudup in seiner besten Rolle.

Die psychologisch-intensive Inszenierung der letzten halben Stunde des Films 1984 ist längst vielfach aufgegriffen worden, nicht zuletzt in den Comics von Grant Morrison, der gerade in seinen besten Arbeiten eine große Beeinflussung durch Orwell zeigt: In The Invisibles (1995 – 2000) greift er intensiv die Idee des totalitären Systems auf, das das Leben, wie wir es wollen, nicht weniger als vernichten will. Oder wie O’Brien in einer Schlüsselszene in 1984 sinngemäß sagt: Wer sagt denn, dass Hass nicht ebenso viel Recht auf Sieg hat wie Liebe? Bei Orwell triumphiert O’Brien, der große Bruder, total. Er hat seinen eigenen Widersacher Goldstein gleich ebenfalls erfunden und dessen Thesen gegen sein eigenes System selbst verfasst. Das System wird lange korrodieren müssen, bevor es daraus einen Ausweg geben wird.

Richard Burton ist umwerfend in seiner Rolle als charismatischer Führer, John Hurt fand in Winston die Rolle seines Lebens und Julia ist ebenso perfekt mit Suzanna Hamilton besetzt. Der Gegensatz zwischen der zarten Unschuld der Hauptfiguren und der perfiden Cleverness des Systems ist eindringlich und schmerzhaft; der Film verdichtet den Roman meisterhaft auf pointierte zwei Stunden – anders als die aktuellen Comicversionen, die sehr lang und ausführlich sind, so dass ich mich frage, weshalb ich nicht gleich besser zum Roman greifen sollte.

 

 

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