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DEEP IT

Marc-Antoine Mathieu hat mit DEEP IT einen potenziell sehr interessanten Beitrag zu einem der heißesten Themen unserer Zeit abgeliefert: Künstliche Intelligenz.

Alle Abbildungen © Reprodukt

Gerrit: Bei DEEP IT handelt es sich um die Fortsetzung von Marc-Antoine Mathieus DEEP ME, der 2023 erschienen ist und dich ganz schön beeindruckt hatte (hier rezensiert von Christian). Jener Comic fiel ein wenig aus der Reihe der Mathieu-Veröffentlichungen, weil er weitestgehend nur schwarze Panels bot, eine experimentelle Comic-Schwundstufe, die du treffend mit Shane Simmons Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers verglichen hast. Man könnte auch Das unsichtbare Raumschiff für einen Vergleich heranziehen, wobei dieser Comic von Patrick Wirbeleit, Andrew Matthews und Uwe Heidschötter (Kibitz 2022) eher die komischen Seiten dieses formalen Experiments auslotet. In DEEP ME ging es um eine von Menschen geschaffene KI namens Adam, die in einer Zeit nach der Menschheit in einer Kapsel über den Meeresgrund treibt. Wir Leser verstehen erst spät, dass Adam kein Patient im Krankenhaus ist, sondern eine KI. Wir erleben alles aus seiner Perspektive während seiner durchnummerierten Wachphasen. Sein bewusstes Erleben ist also Gegenstand des Comics – sowohl von DEEP ME als auch DEEP IT.

Christian: Also manchmal hab die Geschichten über, in denen es um Maschinen mit Bewusstsein geht. Ich glaube das nicht. Mich interessiert immer nur die menschliche Komponente daran: Wieso projizieren wir menschliche Gefühle in die Maschine hinein? Was erhoffen wir uns davon? Was macht es mit uns bzw. was macht es aus uns, wenn wir der Maschine mit Gewalt begegnen, obwohl die Maschine uns gegenüber freundlich ist. Macht es uns kälter und härter oder geht das spurlos? – Es sind ja nur Maschinen?

„Vergiss dabei nicht das Wesentliche, Adam: Eine adäquate Umgebung.“

Andererseits, und da sind wir schon bei Mathieus DEEP IT: „Wasser, Methan, Ammoniak, CO2, Energie und einige feinste Einstellungen. Letztendlich bedarf es nur wenig, damit Leben entsteht.“ Dass aus solchem Chemie-Cocktail Bewusstsein entsteht, ist nicht weniger unbegreiflich. Vielleicht bedarf es dieser Gegenüberstellung um zu erkennen, dass Bewusstsein grundsätzlich etwas Rätselhaftes ist. Marc-Antoine Mathieu formuliert solche Gedanken nicht explizit, aber er legt Fährten aus, dass wir selbst auf solche Schlussfolgerungen kommen.

Gerrit: Mathieu lässt vieles offen, und bietet damit viele Fährten an, auch falsche. Weil wir Adams Perspektive 1:1 einnehmen, erfahren wir nur sehr wenig über diese Welt und dieses sehr streng portioniert. Mathieu hatte im ersten Band den Eindruck vermittelt, es würde um einen Menschen gehen, der alles um sich herum wahrnimmt, sich aber nicht äußern kann (Locked-In-Syndrom), er also ‚tief in sich eingeschlossen ist‘, um den Titel plausibel zu machen. Gegen Ende von DEEP ME erfahren wir, dass es sich um ein künstliches Bewusstsein handelt, von Menschen erschaffen, die nur scheinbar um Adam herumstehen, sondern tatsächlich Teil eines Programms sind, um Adams Bewusstsein zu entwickeln. Wir beobachten ihn also beim Lernen.

Mathieu geht es aber nicht darum, uns zu erklären, wie KI funktioniert oder dass ein künstliches Bewusstsein wie ein menschliches funktioniere. Wie könnte er so etwas auch behaupten. Wie in allen KI-Geschichten geht es auch Mathieu in DEEP IT um den Menschen.

Christian: Ja, natürlich. Dabei lohnt sich der Re-Read von DEEP ME sehr, da erst jetzt auffällt, wie viel Mathieu von dem, was in DEEP IT verhandelt wird, da schon angedeutet wird. Was mir beim ersten Lesen wie eine aufgesetzte, komplizierte Pointe vorkam, wird nun zum tragenden Teil der Geschichte. Adam musste durch die existenzielle Krise seines entstehenden Bewusstseins, und durch seine selbstlose Entscheidung, die vom vorgezeichneten Weg abwich, wurde er zu einem echten Bewusstsein. Ich fand es damals befremdlich, dass die Gruppe von Wissenschaftlern, die Adam in Empfang nimmt, vorsichtig sein muss mit dem, was sie Adam mitteilen, um Adam a) nicht zu überfordern und b) nicht zu traumatisieren. Künstlichen Intelligenzen wird normalerweise ja eher eine schnelle Auffassungsgabe nachgesagt; aber ein Bewusstsein ist eben doch noch mal etwas anderes als unsere bisherige Vorstellung von Künstlicher Intelligenz. In DEEP IT sieht Adam sich als „echtes Geschöpf“, während der ihm zugeordnete Gehilfe lediglich ein Chat-Roboter mit Freundschaftsfunktion ist. Adam hat auch öfter mal das Bedürfnis, allein zu sein, sein Chat-Partner dagegen bleibt wunschlos und ist immer da, wenn man ihn braucht. Eigentlich eine Horror-Vorstellung: ein isoliertes Bewusstsein für alle Ewigkeit allein mit sich selbst.

Adam wird hier von seiner Chat-Einheit explizit als „Mensch“ bezeichnet. Tatsächlich ist er „posthuman“.

Gerrit: Dieser Horror beginnt in DEEP IT aber ganz himmlisch, mit Adams Blick in die sich verändernden Wolkenformationen, nur dass es sich eben nicht um Wolken handelt. Mit seiner eingeschränkten Wahrnehmung, ganz wie der Betrachter in Platons Höhlengleichnis, ist Adam eben nicht allwissend, kein künstliches Superhirn, sondern abhängig von dem, was er wahrnehmen kann. Darin gleichen sich Chatbots und Menschen eben auch – in dieser mechanistischen Perspektive ist der Mensch ganz Maschine oder die Maschine ganz menschlich.

Das Transzendieren zwischen eindeutigen Zuständen ist ja auch das Thema der Eingangssequenz, als Adam (und das heißt: auch wir) Wolken beobachtet und seine Beobachtungen beschreibt: „Sie entstehen und vergehen. Dazwischen nehmen die jede mögliche Form an. […] Sind sie immer noch da oben? So zahlreich und verschieden?“ Wie das menschliche Leben geprägt ist von Geburt, individuellen Lebenswegen und dem Tod, so sieht Adam dies auch in den sich wandelnden Wolkenformationen, so als ob es der Lauf aller Dinge wäre – oder nur die menschliche Sicht auf die Welt. Am Ende sehen die Wolken auch aus wie spielende Menschen, und vielleicht neigen wir ja eh dazu, in allem immer wieder nur uns selbst zu sehen. In Wolken. In Computern.

Christian: An Platons Höhlengleichnis habe ich bisher nicht gedacht. Aber eigentlich ist es naheliegend. Ich muss zugeben, beim zweiten Lesen hat sich mir viel erschlossen, was mir beim ersten Mal noch verborgen bleib. In Wachphase 642, ziemlich am Anfang des Buchs, erfahren wir, dass Adams Speicher das komplette Wissen der Welt umfasst: „Die enorme, ununterbrochene algorithmische Aktivität erschafft etwas einzigartiges: dich, Adam. Aus all dem entsteht dein Bewusstsein. […] Du hast keine Vergangenheit. Du bist die Synthese eines Datenkorpus aus Milliarden von gespeicherten Individuen, Objekten und Konzepten.“

Beim ersten Mal hab ich da drüberweggelesen. Beim zweiten Mal hat mich die Vorstellung schier umgehauen. Mathieu hat hier ganz beiläufig ein sehr tragfähiges Bild eingestreut, das die Vorstellung eines pulsierenden Universums widerspiegelt. Alles Wissen der Welt hat sich in Adam als alleinigen Träger komprimiert. Von dort kann es gar nicht anders als wieder expandieren, sich auf sehr viele Träger verteilen, die ihrerseits nur noch wenig wissen bzw. das Wissen unter sich aufteilen; und wenn dieser Zustand zu weit fortgeschritten ist, wird sich der Prozess wieder umkehren und sich das Wissen wieder zusammenziehen, bis wir wieder bei der komprimierten Form des Anfangs sind. Ein immer wieder kehrender Urknall.

Das Wunderbare an Mathieu ist, dass solche Ideen in seiner Darstellung wiederum nur in Spuren enthalten sind. Er gibt unzählige Steilvorlagen zum Weiterdenken. Das ist poetisch in der Komposition. Aber die Bebilderung lässt uns fast ebenso staunen. Seine Mischung aus klarer Linie und Pointilismus ist eigenartig und schön.

Gerrit: Das macht auch den Unterschied zum ersten Band aus, der ja fast ausschließlich aus schwarzen Panels bestand. Nun sehen wir zumindest das Innere der Kapsel Kapsel, in der Adam (bezeichnenderweise ohne Eva) reist, und immer wieder zumindest andeutungsweise das Äußere. Vor allem aber sehen wir, seitdem Adam seine Phantasie entwickelt, allerlei Formen, die sich aus Punkten zusammensetzen. Und immer wieder sehen wir die Dimensionen verschwimmen: das Große im Kleinen, so wie Adams Suche ja auch nicht in der Höhe, sondern in der Tiefe stattfindet.

Das ist grafisch immer noch sehr reduziert, aber für Adam ist das schon ein großer Schritt – und es ist auch ein spürbarer Effekt für die Leser:innen, die von der Leere der schwarzen Panels kommen und nun zu sehen beginnen. Ich verstehe übrigens, wenn Leser:innen diese beiden Bände erzählerisch wie grafisch langweilig finden: Es gibt keine handelnden Personen, eigentlich auch keine Handlung, sondern nur das Räsonieren einer nichtmenschlichen Identität, die wir nicht zu Gesicht bekommen. Das klingt nicht sehr vielversprechend und verlangt den Leser:innen viel ab. Die beiden Bände sind zuerst 2022 und 2024 bei Delcourt erschienen, und würde nicht die Prominenz Mathieus dahinterstehen, würden sie es sicher sehr schwer haben. Ich frage mich, ob Mathieu in Deutschland genug Leser:innen findet. Die beiden vorigen Mathieu-Comics, Le Livre des livres (2017) und 3 rêveries (2018), haben es (noch) nicht nach Deutschland geschafft, obwohl Mathieu in diesen Jahren die Ausstellung „Kartografie der Träume“ (2017, hier gibt es einen tollen Ausstellungsband) gewidmet wurde. Ich würde ihm viele Leser:innen wünschen.

Die Lektüre von DEEP IT wird erst gewinnbringend, wenn man sich mehrfach und intensiv mit den einzelnen Wachphasen auseinandersetzt, und es gibt Passagen, mit denen ich auch wenig anfangen kann. Aber gerade deshalb lohnt sich der Comic, weil es viel zu entdecken gibt und die Passagen zum Flanieren durch Mathieus Gedankenwelt einladen. Oder durch die eigene. In Adams Schlafphasen sind wir gefordert.

Christian: Ich würde sagen, man dockt an Mathieus Gedankenwelt an und verbindet sie mit der eigenen. Die Verknüpfung isolierter Zellen ist ja auch ein Motiv in DEEP IT. Eines der größten Probleme des menschlichen Bewusstseins ist ja, dass jedes Bewusstsein für sich allein existiert, was die Verbindung zu den Mitmenschen kompliziert macht. Wie schön ist doch das die Vorstellung, dass es das Trennende in Wirklichkeit gar nicht geben könnte. Das Innere kann nie das Äußere sein – außer man entwickelt Modelle, in der die Trennung zwischen dem Inneren und dem Äußeren irrelevant ist. Mathieu vermittelt uns eine Ahnung, wie so etwas aussehen kann. Aber natürlich spielt er uns wieder nur einen Ball zu. Was wir aus dieser Idee letztendlich machen, überlässt er uns selbst.

Ich sehe Marc-Antoine Mathieu hier in der Tradition der frühen Vertigo-Ära, in der wir als Leser auch öfter mal auf psychedelische Gedankenreisen geschickt worden sind. Unter anderem zähle ich die Swamp-Thing-Story „Rite of Spring“ von Alan Moore, Bissette und Totleben dazu, in der das Swamp Thing seiner Freundin Abby eine besondere Frucht zu essen gibt, damit diese sieht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das Ganze ist wohl eher einer Drogenerfahrung nachempfunden, aber diese Art von Bewusstseinserforschung bewegt sich ohnehin stets im Grenzbereich zwischen Psychedelia und Science Fiction. Auch Marc-Antoine Mathieu ist durchaus trippy, aber bei besonders klarem Bewusstsein.

Um abzuschließen: Die Lektüre von DEEP IT am besten im Doppelpack mit DEEP ME, bewegt etwas in meinem Kopf. Wir haben gut daran getan, uns von den schwarzen Seiten in DEEP ME nicht verscheißert gefühlt zu haben. Im Doppelpack mit DEEP IT ist hier etwas sehr Faszinierendes entstanden.

10von10Christians und Gerrits Fazit: Marc-Antoine Mathieu ist etwas Einzigartiges gelungen.

DEEP IT
Reprodukt, 2024
Text und Zeichnungen: Marc-Antoine Mathieu
Übersetzung: Hanna Reininger
112 Seiten, Hardcover
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-435-1
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