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Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers

In Flann O’Briens Roman Der Dritte Polizist gibt es einen Kunsthandwerker, der eine handwerklich hochwertige Kassette herstellt. Danach fertigt er die perfekte Kopie dieser Kassette an, nur kleiner, damit er sie in der ersten Kassette deponieren kann. Dann kommt auch in diese Kassette eine noch kleinere Kassette hinein, dann noch eine, man kann sie nun nur noch mit starkem Vergrößerungsglas sehen, dann noch eine, inzwischen sind die Kassetten so klein, dass sie sogar in der Vergrößerung unsichtbar bleiben. Gefertigt werden diese Miniaturen in aufwendigem Verfahren mit ebenso unsichtbaren Werkzeugen – was sonst? Man kann ja sonst gar nicht mehr in die Ecken hineinarbeiten.

Alle Abbildungen © Avant-Verlag

Der Gelegenheits-Comicautor Shane Simmons ist für sein Werk Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers ähnlich vorgegangen, jedoch auf halbem Wege stehengeblieben. Seine Comicfiguren kann man noch sehen, aber gerade noch so. Ich würde nicht darauf wetten, dass man tatsächlich die behaupteten „viktorianischen Magazin-Illustrationen“ (Covertext) hinter den Pünktchen erkennt, wenn man die Lupe draufhält (das Backcover suggeriert genau das), denn durch die zur Reproduktion angewendete Kopiertechnik sind nur grobe Punkte übergeblieben, die nichtsdestotrotz die epische Geschichte eines Lebens während der Jahrhundertwende um 1900 in Schlaglichtern nacherzählen. Die einzige Differenzierung, die das Artwork noch übriglässt, ist das schamloseste Body-Shaming, das die Comicwelt je gesehen hat, denn die Ehefrau des titelgebenden Roland Gethers ist nach zahlreichen Geburten auseinandergegangen wie ein Hefekuchen, was in der punktlerischen Darstellung durch Shane Simmons folgerichtig in einem übergroßen Punkt zum Ausdruck kommt, der dreimal so fett ist wie die Darstellung sämtlicher Zeitgenossen.

Erzählerisch bleibt Shane Simmons völlig der Zweidimensionalität verhaftet und seine Figuren stehen auf der Bühne wie im Kasperletheater. Während ihrer Bühnenpräsenz wird stets streng darauf geachtet, dass auf Grund hoher Verwechslungsgefahr jede Figur jederzeit zuordenbar ist – die „very big lady“ natürlich ausgenommen, die sieht man sofort. Das hat bisweilen einen Touch von South Park, auch was den respektlosen Humor angeht, und ist ein herrliches Spiel mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Bisweilen ist es etwas ermüdend, den gleichförmigen Panels (80 pro Seite) zu folgen, doch hätte die epische Geschichte des Roland Gethers, der die letzten Kolonialkriege, zwei Weltkriege und den Börsencrash durchlebt, wohl auch in 1000-seitiger Prosa die eine oder andere Länge.

So war sie, die schwarze Pädagogik des 19. Jahrhunderts

Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers ist ein formales Experiment, das auch nach über 25 Jahren nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt hat. Und es ist ein weiterer Beweis, dass kein Mensch zu unbegabt ist, um Comics zu gestalten, denn wo Fleiß und Durchhaltevermögen walten, da finden sich immer Wege. Nach Strichmännchen (Randall Munroes XKCD), Beinahe-Strichmännchen (Friends von Jan Soeken, Lea Wegners Ich kauf ein A und möchte lösen) sowie Fotocomic ( Union der Helden von Arne Schulenberg) nun also die letzte Zuspitzung der Reduktion auf bloße Punkte. Und doch verleiht gerade die Darstellung in Panels der Story Witz, was beweist, dass die Darstellungsform das entscheidende Kriterium einer Erzählung ist, nicht der Inhalt. Und spannender als der nächste Superheldencomic von der Stange sind diese formalen Experimente allemal. Mehr davon.

Shane Simmons lotet die Grenzen des Mediums aus

7von10Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers
avant-Verlag, 2020
Text und Zeichnungen: Shane Simmons
Übersetzung: Uli Pröfrock
52 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-96445-033.3
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