Radium Girls ist eine True Story über den Umgang mit radioaktivem Material abseits der Geschichts- und Schulbücher. Vor allem aber geht es um den Umgang mit Menschen.
Cy führt uns in diese amerikanische Geschichte aus dem Jahr 1918, indem sie uns eine Radiowerbung für das mit Radium versetzte Heilmittel Radiothor lesen bzw. hören lässt. Dieses Medikament erlangte nach anfänglich positiver Resonanz Anfang der 1930er Jahre unfreiwillige Berühmtheit, weil der amerikanische Sportler Ebenezer Byers nach der Einnahme von weit mehr als 1.400 Dosen einen qualvollen und gut dokumentierten Tod starb. Die Fotos seines deformierten Gesichts ohne Unterkiefer sind so einprägsam wie grausam.
Von seinem Leid aber handelt Radium Girls nicht.
Die Radium Girls sind keine Erfinderinnen und keine Entdeckerinnen, es sind fünf Frauen, deren Namen es nicht in die Schulbücher geschafft haben. Die drei Schwestern Mollie, Albina und Quinta sowie deren Freundinnen Edna, Katherina und Grace arbeiten für die US Radiation Corporation und sind dafür verantwortlich, eine mit Radium versetzte Farbe namens „Undark“ auf die Zeichen eines Ziffernblattes aufzutragen, damit diese auch im Dunkeln leuchten.
Sie selbst nennen sich die Ghost Girls, weil ihre Hände nach der Arbeit mit dem Radium im Dunkeln geisterhaft leuchten. Dass sie zwar den Effekt des Radiums sehen, nicht aber die Gefahr für ihre Gesundheit, ist nicht ihre Schuld. Die Firma gab sich keine Mühe, die Risiken transparent zu kommunizieren. Und so kommt es, dass Mollie sich für eine Party die Fingernägel mit der radiumhaltigen Farbe lackiert. „Ein Pinselstrich für das Ziffernblatt, ein Pinselstrich für meine Nägel, schwups, keiner hat’s gemerkt.“ Tod-chic, könnte man sagen.
Der Erfinder dieser Farbe, Dr. von Sochoky, warnt die Frauen vor den gesundheitlichen Folgen vor allem der lip-dip-paint-Technik, bei der die Arbeiterinnen den Pinsel, mit dem sie die Farbe auf die Ziffernblätter auftragen, mit den Lippen anfeuchten: „Davon werden Sie krank,“ sagt Sochoky ihnen, aber ihre Vorgesetzte in der Fabrik spielt es herunter.
Als die Todesmeldungen aus der Fabrik sich immer mehr häufen, werden die Frauen allmählich misstrauisch. Von den Symptomen bleiben auch sie nicht verschont, und so ziehen sie vor Gericht, um ihr Recht auf eine finanzielle Entschädigung durchzusetzen. Angesichts des tödlichen Verlaufs der Krankheit ist das nur ein schwacher Trost, aber es geht ihnen natürlich auch ums Prinzip. Mehr noch: um Gerechtigkeit. Die Firma spielt schäbigerweise auf Zeit, mit dem Wissen, dass den jungen Frauen davon nicht mehr viel bleibt. Was für eine Ironie, dass denen die Zeit wegläuft, die jahrelang Ziffernblätter bemalt haben …
Der Comic atmet die 1920er Jahre, nicht nur wegen der extravaganten Mode, wegen des exaltierten Charlestons, in dem Cy die Gelenke wie in den künstlerischen Verrenkungen kubistischer Gemälde herumwirbeln lässt. Ganzseitige Abbildungen der Frauen zeigen in modernistischer Manier des frühen 20. Jahrhunderts, wie sie wie von Strahlen durchzogen, zertrennt und zerschnitten werden – ganz so, wie die Strahlenkrankheit sie von innen zerfrisst. Die Buntstiftoptik wirkt zunächst sehr fernliegend, um das Leuchten des Radiums in Szene zu setzen, aber genau dies verleiht dem Comic einen besonderen Charme.
Cy lässt sich immer wieder Raum für erzählerische Abschweifungen etwa über Bademode, das Frauenwahlrecht oder Alkoholkonsum. Das fördert, auch mit viel Humor, die Einbettung der Geschichte in das historische Setting, führt manchmal aber auch vom Thema weg.
Man muss die Story im Rahmen einer Geschichtsschreibung verstehen, die sich nicht mit den großen Themen etwa der Politikgeschichte befasst, sondern die sich dem Alltag normaler Menschen widmet, deren Namen in keinem Lexikon stehen. Diese Perspektive ist noch nicht besonders alt, und indem Cy sich zum einen mit der Arbeiterklasse beschäftigt und zum anderen mit Frauen, widmet sie sich gleich zwei lange marginalisierten Gruppen.
Der Comic basiert auf dem erfolgreichen Sachbuch The Radium Girls von Kate Moore (2017), das wiederum die Vorlage für die französische Comic-Originalausgabe war, die Cy im August 2020 bei Glénat veröffentlichte.
Sachbuch wie Comic haben viel Lob erfahren, und in der Tat bemühen sich die Buntstiftzeichnungen, die Stimmung der Zeit in Posen und Formen einzufangen, auch unter weitgehendem Verzicht auf mühevoll ausgearbeitete Hintergründe. Die Frauen erscheinen, zumal die drei Schwestern einander zum Verwechseln ähnlich sind, aber auch etwas austauschbar, in ihrer Optik wie auch in ihren Sorgen. Die Exkurse, etwas kurz zur Charakterisierung der Figuren und zur Ausbildung des Settings, zu lang wiederum, als dass sie nicht vom Plot ablenken würden, wirken etwas ziellos oder beliebig.
Die leichtfüßig erzählte Story ist auch ohne dokumentarischen Anhang lehrreich, und unterhaltsam ist sie auch. Und wer das Buch als Bettlektüre nutzen möchte, wird eine Überraschung erleben, wenn er oder sie das Licht löscht.
Manche leuchten, wenn man sie liest.
Carlsen Verlag, 2021
Text und Zeichnungen: Cy (d.i. Cyrielle Evrard)
Übersetzung: Christiane Bartelsen
136 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-551-76389-1
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