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Enigma – Gesamtausgabe

War die Vertigo-Serie Enigma von 1993 ihrer Zeit tatsächlich 30 Jahre voraus? Oder muss man dabei gewesen sein, um den Kult um Enigma verstehen zu können? Gerrit Lungershausen und Christian Muschweck diskutieren Enigma.

Gerrit: Unsere Dialogrezensionen machen mir am meisten Spaß, wenn wir beide uns in der Bewertung nicht einig sind. In diesem Fall war ich rasch überzeugt, dass Enigma von Peter Milligan und Duncan Fegredo uns leider nicht als Zankapfel dienen wird. Ich mag den Humor und die Wucht, mit der Milligan und Fegredo so plötzlich zuschlagen, etwa gleich mit der ersten Seite, auf der wir eine amerikanische Ranch im Abendlicht sehen, einen in die Jahre gekommenen Brunnen und einen Zaun, der die Landschaft durchschneidet: „Man könnte sagen: Alles fing in Arizona an. Vor fünfundzwanzig Jahren. Auf einer Farm. So eine ganz gewöhnliche Farm in Arizona.“ Und wer sich nun nostalgisch auf die Shiloh Ranch zurückversetzt fühlt und kitschige Cowboyromantik aufkommen spürt, wird jäh rausgerissen: „Die Art von Ort, an dem man sexuelle Erfahrungen mit seinen Eltern macht und irgendwann wen erschießt.“ Der Schlag sitzt.

Alle Abbildungen © Cross Cult

Der Telefontechniker Michael Smith führt ein geregeltes Leben (m.a.W. stinklangweilig mit Dienstags-Sex und Namensetiketten in der Unterwäsche): „Er ist sehr normal“, urteilt seine Freundin. „Ja, so sehr, dass es seltsam ist“, ergänzt ein anderer. Noch seltsamer aber sind auf den ersten Blick die todbringenden Monster in der fiktiven Metropole Pacific City: Dort wütet und mordet etwa der Braineater, der seine Opfer genauo so tötet, wie sein Name es verspricht.  Bei The Head handelt es sich um ein Wesen im Zebra-Outfit mit überdimensioniertem Kopf. Noch mehr Skurrilität wagen Milligan und Fegredo in Kapitel 3 mit The Truth, der die Menschen in die Verzweiflung treibt, indem er ihnen die schmerzliche und meist tödliche Wahrheit zeigt – ironischerweise handelt es sich bei The Truth in Wirklichkeit um den Schauspieler Victor Lamont.

Victor Lamont ist „The Truth“ – obwohl er von Berufs wegen eher der Fiktion zuneigt.

Über allem steht aber der maskierte Held Enigma, den Michael Smith aus einem Comic seiner Jugend kennt. Entstammen all diese Figuren der Phantasie des Enigma-Autors Titus Bird? Michael Smith macht sich mit Hilfe Birds auf die Suche nach Enigma und muss auch in seine eigene Kindheit zurückreisen – sind wir letztlich nur Zeugen einer Wahnvorstellung?

Enter Enigma.

Christian: Enigma war 1993 einer der ersten Titel des Vertigo-Imprints des DC-Verlags, die nicht nur bestehende Konzepte wie Sandman oder Swamp Thing fortsetzten. Es ist vielleicht der Titel, der die Programmatik des Vertigo-Imprints deutlicher repräsentiert als jeder andere Vertigo-Comic. Das Imprint wurde 1993 von DC-Redakteurin Karen Berger ins Leben gerufen, um erwachsene und progressive Comics auf Abstand zum üblichen Superhelden-Mainstream halten zu können. Sausten früher gerne mal Superman oder Batman durch die Serien Swamp Thing und Animal Man, so war dem ab 1993 ein deutlicher Riegel vorgeschoben. Von 1993 an gab es keinerlei Berührungspunkte mehr zwischen DC-Mainstream und Vertigo. In späteren Jahren wurde diese Grenze dann wieder mehr und mehr aufgeweicht.

Enigma ist ein typischer Vertreter der Vertigo-Ära und enthält zahlreiche Versatzstücke:

  • Es ist ein Superhelden-Comic, aber es geht nicht darum, die Welt zu retten. Vielmehr geht es darum, die eigene Seele zu erforschen. Gerne kamen in den Geschichten dieser Ära queere Elemente vor: Enigma ist in dieser Richtung besonders deutlich.
  • Es herrschte eine Tonalität des magischen Realismus.
  • Es ist postmodern und metatextuell.
  • Die Grenze zwischen Allegorie und eindeutiger Erzählung ist fließend. Das erkennt man bei Enigma unter anderem an Figuren wie „The Head“ und „The Truth“, die gleichzeitig ein Konzept verkörpern und dennoch auch sind, was sie sind. Man kennt ähnliches aus den Sandman-Geschichten, wo Figuren wie „Dream“, „Desire“, „Delirium“ oder „Despair“ auftreten.

Gerrit: Die Superhelden machen Enigma tatsächlich noch zu keinem Superhelden-Comic. Diese hinterlassen einen in der Regel mit der Gewissheit, dass Ordnung im Universum herrscht, denn Gut und Böse sind auf den ersten (oder zweiten) Blick rasch zugeordnet. Hier aber stellen sich solche Fragen eigentlich gar nicht, sie wirken völlig naiv. The Truth fasst die Orientierungslosigkeit zusammen: „Es gibt kein Draussen. Weder innen noch außen, weder rauf noch runter, wenn es um die Wahrheit geht …“ Milligan und Fegredo werfen uns in eine Welt ohne Koordinatensystem, auch die zeitlichen und räumlichen Zusammenhänge werden erst beim zweiten Lesen klarer.

Entblättert: The Truth wird zur Wahrheit.

Christian: Interessant ist dabei, wie der Übersetzer Jörg Fassbender in der deutschen Version mit den Worten „Truth“ und „Wahrheit“ jongliert. Erst führt er die Figur mit ihrem englischen Super-Alias ein, blättert dann aber die Sprachbarriere ab und verlässt sich darauf, dass die Leser den Zusammenhang zwischen dem englischen und dem deutschen Wort für „Wahrheit“ selbst erkennen. Anders im englischen Original, in welchem die Figuren von Anfang an mit der „Wahrheit“ konfrontiert werden. Es lässt den Text in der deutschen Fassung vergleichsweise kraftlos wirken, wenn da steht „The Truth hat weitere dreißig Menschen getötet“, wo das zweideutige „Die Wahrheit hat weitere dreißig Menschen getötet“ gerade im Wechselspiel zwischen Klartext und Allegorie die schönere Variante wäre. Vielleicht bietet die Begriffsverdopplung in der deutschen Version aber sogar einen Erkenntnisgewinn, denn Sprache und Begriffe zerfallen in Enigma vor unseren Augen und selbst vermeintlich große Konzepte wie „Truth“ und „Wahrheit“ sind in Wahrheit nur Hülsen. Oder ist die „Wahrheit“ etwa, dass Michael Smith sein Leben lang seine tatsächliche persönliche Wahrheit verdrängt hat? Dann würde die Wahrheit siegen – und die ist ja nur, wie du bereits treffend erkannt hast, ein Schauspieler. Kein Wunder, dass Enigma der vielleicht wichtigste Vertreter der frühen Vertigo-Ära ist, als das Wort Vertigo, also Schwindelgefühl, noch wörtlich genommen werden durfte. Diese frühe Vertigo-Ära wird irgendwann als ebenso bedeutende künstlerische Strömung eingeordnet werden wie Dada oder der Blaue Reiter.

Gerrit: Man muss solche wilden Avantgarde-Achterbahnfahrten aber auch mögen … die wilden Zeichnungen und kühnen Perspektiven (von der Erzählperspektive ganz zu schweigen!), die oft für Unruhe sorgen, weil ständig alles aus den Panelrahmen zu kippen scheint. Als würden die beiden uns kurz etwas Sicherheit geben wollen, wenn sie den Comic etwa wie einen Superheldencomic mit bekanntem Setting und Plot erscheinen lassen und dann alles ins Wanken bringen. Enigma teilt mit anderen Klassikern der 1980er wie Frank Millers The Dark Knight Returns (1986) und Alan Moore und Dave Gibbons‘ Watchmen (1986/87) eine tiefe Grundskepsis gegenüber Helden, ist aber viel anarchischer – und humorvoller. Milligans trockener Humor zieht sich durch alle Kapitel wie auch das Vorwort. Nur am Rande: Das Bonusmaterial, Vorwort wie die Skizzen und Texte im Anhang, sind auch sehr gelungen.

Kurzum: Ich finde Enigma auch nach dem zweiten Lesen kein bisschen langweilig, weil viele Sprünge erst beim zweiten Lesen verständlicher werden. Die Metakommentare der Figuren à la „Das ist ja wie im Comic“ sind manchmal auf Kalauerniveau, aber vielleicht stört mich das heute auch nur, weil wir so knietief durch so eine zäh verpoppte Postmoderne waten, dass diese Gags sich abgenutzt haben und niemanden mehr aufrütteln.

Enigma ist nicht nur der Name des Titelhelden, sondern auch der Titel des Comics, der immer wieder vorkommt (Mitte oben).

Christian: Es gibt von Peter Milligan eine sechsteilige Animal Man-Geschichte von 1990, die in vielfacher Hinsicht Enigma vorwegnimmt. Darin erwacht Animal Man aus einem Koma und fühlt sich plötzlich seltsam fremd im eigenen Haus. Seine Frau führt nur mehr eine Zweckehe mit ihm und geht fremd, und Animal Man macht auf einmal sehr seltsame Dinge, folgt dunklen Trieben, markiert sein Revier und tötet Tiere, obwohl er doch zuvor ein militanter Tierschützer war. Im Verlauf der Geschichte erkennt er, dass die Welt sich mit jeder Geste in neue Varianten aufspaltet. Nach und nach werden ihm die unendlich vielfältigen Pfade bewusst, die sein Leben zufällig einschlagen bzw. nicht einschlagen kann. Die Realität zerfällt vor seinen Augen und es besteht Gefahr, dass sie ihm entgleitet – was natürlich auch damit zu tun hat, dass plötzlich allerhand schräge Superfiguren aus der dritten Reihe sich ein Stelldichein geben; an einer Stelle ist sogar von einem „Envelope Girl“ die Rede. (Dessen tatsächlichen Auftritt hat sich Mr. Milligan dann jedoch tatsächlich für Enigma aufgespart.) Das alles hat wenig mit dem Paralleluniversum-Murks moderner Dr. Strange oder Flash-Geschichten zu tun, dafür umso mehr mit der Erkenntnis, dass es pure Illusion ist zu glauben, man können sein Schicksal selbst steuern. Kontingenz ist unser aller Los.

Animal Man (nicht die Grant-Morrison-Variante) war Milligans Blaupause für Enigma, war aber – bei aller Innovationskraft, die es schon hatte – ein DC-Industrieprodukt, samt den konventionellen Zeichnungen von Chas Truog (ein Heft auch von Steve Dillon) und den Farben von Tatjana Wood. Duncan Fegredos Artwork bei Enigma dagegen ist auf ganz andere Weise entfesselt und hat eine Körperlichkeit und Wucht, die bei den Mainstream-Heften der 1990er-Jahre die absolute Ausnahme waren. Und im Gegensatz zu Tatjana Woods Farbpalette von Animal Man, die im Rahmen der Mainstream-Möglichkeiten durchaus ansehnlich ist, verleihen Sherilyn van Valkenburghs oft aquarellierte Farben Enigma sowohl Dunkelheit als auch Glanz. Besonders ihr durchdachter Einsatz von weißen Akzenten sorgt dafür, dass die Farbe Duncan Fegredos unruhigen, suchenden – und findenden – Strich in keinem Panel dunkel zumatscht, wie das bei vielen digital arbeitenden Koloristen der Fall ist. Dem Zusammenspiel von Fegredo und van Valkenburgh ist auch geschuldet, dass die Liebesszene zwischen Michael Smith und der Comicfigur Enigma so poetisch geraten ist.

Kurzum: Duncan Fegredo, Sherilyn van Valkenburgh, dem damaligen ausführenden Vertigo-Editor Art Young, natürlich auch Vertigo-Mastermind Karen Berger sowie den anderen Ermöglichern des Vertigo-Imprints ist es zu verdanken, dass Michael Smiths Universum in ganz andere Dimensionen zerfallen konnte, als dies beim Animal Man je möglich gewesen wäre.

10von10

Christians Fazit: Enigma öffnet unerwartete Türen

 

 

 

Gerrits Fazit: Superhelden gegen den Strich gebürstet

10von10

 

 

 

 

Enigma Gesamtausgabe
Cross Cult, 2022
Text und Zeichnungen: Peter Milligan, Duncan Fegredo
Übersetzung: Jörg Fassbender
264 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 30,00 Euro
ISBN: 978-3966582520
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