Es war einmal vor langer, langer Zeit im Jahre 2001, da erschien im Coppenrath Verlag ein kleines, poetisches Bilderbuch für Erwachsene, das hieß Wie die Liebe so spielt. Es war die erste Veröffentlichung eines Bilderbuchs von Jimmy Liao. Keiner hätte damals gedacht, dass Jimmy Liao irgendwann als Geheimtipp in der Comicszene landen würde. 2009 erschien das Buch ein zweites Mal, diesmal bei Jacoby & Stuart, in neuer, nicht unbedingt besserer Übersetzung, und wieder blieb es danach still um Liao. Der Funke mochte nicht so recht überspringen.
Und dann kam Chinabooks, der kleine Schweizer Verlag für chinesische Literatur. Schon seit Jahren verlegt man dort mit großem Enthusiasmus Comics aus Taiwan und China und zeigt sich auf wichtigen Comicmessen wie Erlangen und München. Chinabooks ist es zu verdanken, dass seit 2017 nun bereits vier neue Bücher von Jimmy Liao bei uns erschienen sind, alle vier in liebevoller Gestaltung und einer kompetenten Übersetzung. Außerdem lud man den Künstler auf das Comicfestival nach München ein, wo er jedoch, anders als er es von seiner Heimat gewohnt ist, nicht der Star war, für den man lange anstehen musste. Man konnte ihm ansehen, dass er dieses unspektakuläre Nischendasein genoss, zumal er auch ein gefragter Gesprächspartner in den zahlreichen Gesprächspanels zum Festivalschwerpunkt Asien war.
Jimmy Liao ist ein Illustrator aus Taiwan, der wohl nie selbst Bilderbücher verfasst hätte, wäre er nicht im Jahr 1995 an Leukämie erkrankt. Da er zunächst nicht mit einer Genesung rechnete, verfasste er sein erstes Bilderbuch als Abschiedsgeschenk an seine Familie. Doch er wurde wieder gesund. Danach begann für Jimmy Liao sein zweites Leben, denn fortan widmete er sich hauptberuflich dem Verfassen von Bilderbüchern für Jugendliche und Erwachsene. Auf dem Comicfestival in München hatte ich die Gelegenheit, ein wenig mit ihm zu plaudern.
Ich kannte zu diesem Zeitpunkt vier Werke von ihm. Darin war mir aufgefallen, dass Liao seine Geschichten zwar in der realen Welt spielen ließ, einer poetischen Bildsprache gegenüber der nüchternen Realität aber stets den Vortritt gibt. Am offensichtlichsten ist diese Freiheit in Der Klang der Farben, einer Geschichte um ein blindes Mädchen, das mit der U-Bahn fährt und dabei die Wunder seiner Stadt kennenlernt. Ich eröffnete das Gespräch mit der Frage an Mr. Liao, ob er die Prämisse, dass es sich um ein blindes Mädchen handelt, als Gelegenheit nutzte, sich besonders viele Freiheiten bei der Darstellung seiner Welt zu nehmen.
Jimmy Liao: In dem Buch Der Klang der Farben gibt es sehr viele Bildmomente, die surrealistisch angelegt sind. Aber die Situation ist eigentlich genau umgekehrt, als Sie in der Frage vermutet haben. Eigentlich ist das Mädchen keine Blinde. Sie geht einfach in den Tunnel hinein und wenn sie rauskommt öffnet sich ihr eine andere Welt. Sie wundern sich jetzt, wenn ich sage, es ist keine Blinde. Doch: Natürlich ist sie eine Blinde. Aber in der ursprünglichen Konzeption war nicht vorgesehen, dass das Mädchen blind ist. Erst im späteren Verlauf hat sich die Person zu einer Blinden entwickelt. Aber die Konzeption des Buches war eigentlich schon ohne Blinde da.
Comicgate: Warum dann aber doch eine blinde Person?
Ich hatte eine Idee mit einem wunderbaren Erlebnis in einer U-Bahn. Ich wollte diese aber anreichern mit etwas mehr Hintergrunderzählung und dachte mir, das Mädchen könnte doch blind sein. Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, erkannte ich die Möglichkeiten, die sich mir boten, diese Geschichte fantasievoll zu gestalten.
Mir ist aufgefallen, dass es ähnliche Verfremdungselemente auch in Die Sternennacht gibt. Da gibt es Tiere, die sind manchmal groß, manchmal klein. Das Surreale ist also keineswegs etwas, das auf die blinde Protagonistin beschränkt bleibt, sondern scheint ein wiederkehrendes Element Ihrer Erzählweise zu sein.
Ich male gerne surrealistische Sachen.
Gibt es keine tiefere Bedeutung dahinter? Mir kam der Gedanke, dass sich je nachdem, wie wichtig einem etwas erscheint, Dinge größer oder kleiner wirken können. Etwas, was man in der Hand hält, erscheint ja auch größer als ein Gegenstand, der unbeachtet rumliegt. Dinge sind in der Wahrnehmung ja tatsächlich nicht immer gleich groß.
Der Surrealismus ist ein Ausdruck der Einsamkeit und der Verlassenheit des Mädchens. Meine Absicht ist nicht, eine realistische Geschichte zu verfremden. Aber der Surrealismus hilft mir dabei, das Gefühlsleben der Personen darzustellen.
Ihr erstes Buch sollte ein Abschiedsgeschenk an ihre Familie sein, weil sie damals sehr krank waren. Ich frage mich an dieser Stelle: Wären Sie auch zum Bilderbuchkünstler geworden, wenn Sie diese Krankheit nicht gehabt hätten?
Das ist tatsächlich schwer zu sagen. Ich stelle mir vor, dass ich auf jeden Fall gemalt hätte, aber eher als Illustrator. Ich hätte wohl nicht kreativ aus mir heraus Bücher entworfen. Ich wäre wohl eher passiv gewesen. Durch meine Leukämie-Erkrankung hatte ich furchtbare Ängste durchlebt. Todesangst. Ich wusste nicht, wie lange es noch weitergehen wird. Deshalb war das erste Buch ein Abschiedsgeschenk. Der Druck, die Angst, die Erfahrungen haben aber auch die Inhalte meiner Bücher später geprägt. Diese Inhalte sind von meiner Krankheit nicht zu trennen.
Die Menschen in ihren Büchern wirken häufig europäisch in ihrem Aussehen. Liegt es daran, dass Sie europäische Einflüsse sehr hoch einschätzen?
Als ich begonnen habe, mich mit dem Illustrieren zu beschäftigen, gab es in Taiwan wenig Vorlagen. Ich habe viel nach Vorlagen gearbeitet – zumindest habe ich erstmal mit Vorlagen gelernt und mir damit das handwerkliche, technische Können angeeignet. Das waren zum Beispiel französische Comics oder humoristische Illustrationen. Und es gab englische Kindergeschichten. In meinen früheren Arbeiten ist der Einfluss europäischer Vorlagen vielleicht noch spürbar. Es gibt zum Beispiel das Buch The Smiling Fish, da ist die Person, um die es geht, eine westliche Person. Aber in späteren Werken ist das nicht mehr so. Nehmen Sie doch Das Kino des Lebens, oder Die Sternennacht. Das sind doch asiatische Gesichter. Sehen Sie das anders?
Hmm. Vielleicht ist der Unterschied zwischen asiatischen und europäischen Gesichtern gar nicht so groß? Aber gut, dass Sie Das Kino des Lebens ansprechen. Darin wird ja sowohl auf asiatische als auch auf europäische Filme sehr stark Bezug genommen. Auch hier habe ich das Gefühl, dass der europäische Einfluss stark ist. Man sieht Plakate von Filmen von Almodovar, von Truffaut …
In einem Buch über Kino müssen natürlich alle möglichen Filme und deren Plakate vorkommen. Pedro Almodovar mag ich tatsächlich sehr gerne. Ich habe Herrn Almodovar gefragt, ob ich das Bild verwenden kann und er war einverstanden.
Aber ich sehe keine Referenzen zu amerikanischen Filmen im Buch.
Aber nur weil es ein Problem mit den Bildrechten gab. Französische, spanische und italienische Regisseure gaben ihr Okay. Von Amerika habe ich auf Anfragen jedoch nie eine Antwort bekommen. Von japanischen Studios und Regisseuren übrigens auch nicht. Nur deswegen gibt es diese Einschränkung. Wenn sie das Buch aufmerksam durchblättern, finden Sie einige geschwärzte Flächen im Buch. Ursprünglich wären dort Plakate von amerikanischen Filmen geplant gewesen.
In Das Kino des Lebens ist das Kino ein Ort für Träume. Die Heldin kann sich in den Filmen verlieren und das Kino ist in gewisser Weise auch die Rettung für sie. Aber verklärt man das Kino nicht auch ein bisschen, wenn man sagt, dass das Kino eine Traumfabrik ist? Es gibt ja auch Kriegsfilme, Horrorfilme, verstörende Filme. Wo ist die Magie in einem realistischen Kriegsfilm?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich in meiner Zeit der Krankheit durch das Kino auf andere Gedanken gekommen bin. Das hat mir sehr geholfen. Dieser Gedanke schlägt sich auch in meiner Erzählung nieder. Wenn es Ihnen nun um die Frage geht, wie man einen Ausgleich findet zu den Problemen der Gegenwart, dann wäre aber eher Tanzen eine Möglichkeit. Oder Malen. Es gibt viele Formen, die es einem ermöglichen, irgendwie das Leben zu meistern. Gibt es denn eine Kriegsszene in meinem Buch?
Nun. Es werden Kriegsfilme angesehen.
Ich wollte die Vielfalt des Kinos zeigen. Man guckt ja nicht nur Liebesfilme. Ich habe damals überlegt, welche Filme ich da reinbringe. Ich habe vor allem Filme gewählt, die man in Taiwan kannte. Es sind eine Menge Filmklassiker dabei, weil sie für mich die Kraft des Kinos am besten widerspiegeln. Und es ist vor allem eine Auswahl von Filmen, die ich selbst sehr gerne gesehen habe. Von daher machen das Mädchen und ich sehr ähnliche Kinoerfahrungen.
Ein Gefühl von Nostalgie vermitteln auch die anderen Bücher, die ich von Ihnen kenne. Ich sehe zum Beispiel nie eine Person mit einem Smartphone oder Handy. Nun ist das neueste Buch, das ich von Ihnen kenne, von 2009. Da gab es noch nicht viele Smartphones. Trotzdem: Keine Person ist je im Internet, überhaupt spielen moderne Medien keine Rolle.
In den späteren Arbeiten gibt es durchaus Mobiltelefone und Sie finden darin auch Kinder, die im Netz sind. Aber es stimmt: In Die Sternennacht gibt es das nicht. Das liegt eben daran, dass es mir in der Phase, aus der die Ihnen bekannten Büchern stammen, nicht um technische Dinge ging, sondern um Gefühlswelten. Und vor zehn Jahren habe ich selbst auch noch gar kein Mobiltelefon benutzt.
Sowohl in Die Sternennacht als auch in Das Kino des Lebens ist einer der schönsten Momente, als zwei Personen nebeneinander auf dem Boden liegen und in den Himmel schauen. Ist das ihre Vorstellung vom vollkommenen Glück?
In Die Sternennacht ging es mir darum, jungen Menschen ein Beispiel zu geben, wie sie eine Distanz herstellen können zu ihren schrecklichen Lebenserfahrungen und ihren Ängsten, indem sie einfach mal in den Himmel raufschauen. Das war der tröstende Moment in dieser Szene. Es gibt auch in anderen Büchern Situationen, in denen die Figuren eine Distanz zwischen sich und ihrer Umwelt suchen. In die Weite schauen, um Distanz zu finden, das ist der Gedanke dahinter.
Sehen Sie sich selbst als Comickünstler? Fühlen Sie sich als Teil der Comicszene in Taiwan?
Ich habe sehr viele Erlebnisse mit japanischer Manga-Kultur gehabt. Aber auch die Graphic Novels und Kinderbücher aus dem Westen hatten einen großen Einfluss auf mich. In Taiwan aber werde ich überhaupt nicht mit der Comicwelt in Verbindung gebracht. Ich mache Bildergeschichten für Erwachsene. Das ist meine Position.
Vielen Dank für das Gespräch.
Fünf Bücher von Jimmy Liao, kurz vorgestellt:
Wie die Liebe so spielt (1999): Eine kleine Liebesgeschichte über zwei junge Menschen, die Tür an Tür leben und doch voneinander nichts wissen. Irgendwann begegnen sie sich und es funkt sogleich zwischen ihnen; aber dann verlieren sie sich im Regen und so vergehen noch viele Wochen, an denen sie sich beinahe wiedersehen und doch stets aneinander vorbeilaufen. Wie die Liebe so spielt ist eine von Jimmy Liaos konventionelleren Erzählungen, aber auch eine charmante Komödie.
Der Klang der Farben (2001): Ein blindes Mädchen bewegt sich durch eine Welt voller Geheimnisse und erschließt sie sich auf seine Weise. Die Erzählung steckt voller Sehnsucht danach, Dinge tun zu können, die leider unmöglich bleiben, und doch steckt es voller Lebenslust. Die U-Bahnwelt in diesem Buch ist voll mit surrealen Eigenheiten und auch die Welt zwischen den Röhren und Schächten, die kein menschliches Auge je sehen wird, steckt voller Geheimnisse.
Der blaue Stein (2006): Ein blauer Stein im Wald wird gesprengt. Die eine Hälfte bleibt liegen, die andere wird zu einem Kunstwerk verarbeitet. Die kleine Geschichte um einen beseelten Naturgegenstand ist gleichzeitig eine Parabel auf die Flüchtigkeit menschlichen Schaffens und eine Reflexion über Einsamkeit und Sehnsucht. Jimmy Liaos Bilder werden immer farbenfroher.
Die Sternennacht (2009): Zwei Kinder sind unglücklich mit ihrer Lebenssituation und verlassen die Stadt. Sie lernen draußen ein einfaches Leben voller Farben und Wunder kennen. Das Bilderbuch über Achtsamkeit und Freundschaft ist vielleicht Jimmy Liaos poetischstes Buch. Er hat es für Jugendliche gemacht, die in einer schwierigen Lebensphase stecken. Die großformatigen Bilder sind wunderschön, die Farben sind ein Fest für die Augen.
Das Kino des Lebens (2009): In diesem Buch zeigt Jimmy Liao, wieviel Plot ein Bilderbuch selbst mit wenig Text transportieren kann. Es ist die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die in jungen Jahren von ihrer Mutter verlassen wurde. Gemeinsam mit ihrem Vater findet sie Trost im Kino, ein Ort, an den sie Zeit ihres Lebens immer wieder zurückkehrt und an dem sie Halt und Lebenssinn findet. Als sie einen Filmemacher kennenlernt, der ebenso für das Kino brennt wie sie, erkennt sie jedoch auf schmerzhafte Weise, dass diese Leidenschaft auch ihre Schattenseiten haben kann. Jimmy Liaos Stilmittel, das Innenleben seiner Figuren in surrealen Bildern abzubilden, erreicht hier seinen erzählerischen Höhepunkt. Es ist nie selbstzweckhaft, sondern ergänzt die Geschichte und ist stets eine Augenweide. Das Kino des Lebens ist ein Meisterwerk.