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Chester Brown: Fegefeuer und Selbstermächtigung

Toronto, 1982: Chester Brown war Mitarbeiter in einem Fotogeschäft, der in seiner Freizeit gerne zeichnete und von einer großen Comic-Karriere träumte. Seine damalige Freundin Kris überzeugte ihn, sein Material in Form von Minicomics im Selbstverlag herauszugeben, ein mutiger Schritt, über dessen Folgen sich beide zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise klar sein konnten. Chester Brown gab seiner Reihe den Titel Yummy Fur, eine Wortkomposition aus zwei nicht zusammenhängenden Begriffen, was dem Titel eine surreale Note verleihen sollte. Kris meinte, der Titel hätte eine starke sexuelle Konnotation, worauf Chester nur meinte: „Umso besser.“ Viele seiner Comics wurden seither nachgedruckt, teilweise mehrfach, aber gerade bei Chester Browns Werk lohnt auch ein Blick auf das Material, das zurückgelassen wurde. Im folgenden Essay soll der Blick sowohl auf die bekannteren als auch auf die vergessenen Comics von Chester Brown gelenkt werden, da zwischen diesen beiden Polen eine interessante Wechselwirkung zu erkennen ist. Es wird uns einen neuen Blick auf den Menschen Chester Brown ermöglichen.

Letztes Wochenende im Januar

Gebe ich „Angoulême“ und „Vivès“ bei Google ein, erhalte ich viele Informationen über den Eklat von 2022, als Bastien Vivès die traditionelle carte-blanche-Ausstellung entzogen wurde, weil man ihn auf Grund provokativer Bemerkungen für nicht tragbar hielt. Nichts darüber, dass Vivès‘ neuer Comic auf dem Festival in Angoulême spielt. Ich war sehr gespannt, ob Letztes Wochenende im Januar, das in Frankreich im November 2022 erschien, eine Aufarbeitung oder gar Abrechnung enthalten würde, aber offensichtlich versucht der Künstler, dieses unrühmliche Kapitel hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken. Und doch, wenn man will, sieht man zwischen den Zeilen durchaus eine melancholische Reserviertheit gegenüber dem Festival – und, ja, auch der Szene.