Vernon Subutex ist wieder da. Im zweiten Band bringt Luz die Adaption der Romanserie von Virginies Despentes zum Abschluss, eine überformatige Graphic Novel voll mit verrückten Geschichten und Figuren.
Wunderbar zum Beispiel die Geschichte um Pamela Kant (natürlich als Pornoname zu lesen) und ihren Partner Daniel, der seine Freundin nervt, weil ihm alles zufliegt – weil Daniel früher eine Pornodarstellerin namens Debbie D’Acier war, die irgendwann beschloss, ihre Karriere zu beenden und die Transition zum Mann zu machen, zu Daniel, der jetzt mit Männern rumkumpelt und sich durch die Gegend bumst, während sie, Pamela, nach Beendigung ihrer Pornokarriere das Stigma ihrer Vergangenheit nie los wurde und darunter leidet, auf ewig als Schlampe und Nutte gesehen zu werden. Aber nicht so Daniel/Debbie: Der flattert nur so durchs Leben. Nachdem er/sie als Deborah bereits ein kleines, pummeliges Mobbingopfer, später gar fettleibige Teenagerin war, hat xier sich zur Sexbombe heruntergehungert, ließ sich zum Casting eines Pornodrehs überreden, machte dort Karriere, entwickelte sich zur Kokserin, häutete sich ein weiteres Mal und ist jetzt der top-attraktive Daniel, die treue Seele an Pamelas Seite – und nervt Pamela kolossal mit seinem mühelosen Lifestyle und seiner verdammten heterosexuellen Männerkumpelei.
Ja, solche Geschichten streut Virginie Despentes in ihrem Vernon Subutex wie nebenbei ein, zu Dutzenden, sie fliegen ihr nur so aus dem Ärmel. Jede kleine Nebenfigur in Vernon Subutex bekommt eine ähnlich farbenfrohe Backstory, und davon gibt es reichlich: burlesk, witzig, tragisch, immer auch lebensnah. Diese Nebenstorys sind es, die der Story um Vernon Subutex, dem glücklosen Schallplattenladenbesitzer, der auf der Straße landet, ihren großen Reiz verleihen. Da vergisst man schnell, dass der Hauptplot über das letzte Interview eines verstorbenen Musikers namens Alex Bleach (eine sehr an Sly Stone und George Clinton angelegte Figur), das sich in Vernons Besitz befindet und das ganz viele Menschen unbedingt haben wollen, auch ein bisschen konstruiert wirkt.
Aber der Plot ist nun mal die Klammer, die die pittoresken Nebenstorys zusammenhält und für Kohärenz sorgt. Man steigt als Leser zwar bald nicht mehr so richtig durch, bei wem Vernon denn nun den USB-Stick mit dem Interview deponiert hat, aber das ist auch gar nicht so wichtig, denn die Geschichten um die vielen schrägen Figuren, die Altpunks, die PornodarstellerInnen, die Story von Aicha, der kleinen Islamistin mit den harten Fäusten, die gemeinsam mit der Tätowiererin Celeste den Tod an ihrer Mutter, der Pornodarstellerin Vodka Satana rächen will, die Story um die Läuterung von Patrice, dem Frauenschläger voller Selbsthass, von Xavier, dem Drehbuchautor, der schon rechtes Zeug geplappert hat, als es noch gar nicht modern war (trotzdem ein total knuffiger Kerl), Xaviers Mutti, die immer noch ihrem verstorbenen zweiten Kind nachtrauert und die Vernon, der auf der Straße sitzt, so gerne bemuttern würde – ach, mit solchen Figuren und noch vielen mehr lässt sich sehr viel Spaß haben, auch wenn man längst den Überblick verloren hat. Despentes hat ein einzigartiges, vielschichtiges Figurenensemble entworfen. Es hat schon seine Gründe, dass Vernon Subutex bereits mehrfach adaptiert wurde.
Manchmal wird es fast unübersichtlich in Luz‘ Adaption, aber das wechselt sich ab mit Erzählphasen von großer Klarheit und ist durchaus als Stilmittel zu bewerten. Luz beherrscht die volle Bandbreite, oft skizzenhaft, mit einer klecksigen Farbpalette, wie man sie unter anderem von Joann Sfar in seinen skizzenhafteren Arbeiten kennt (vor allem Klezmer), manchmal abstrakt, vor allem wenn die Figuren in musikalischer Ekstase sind und feiern, als ob es kein morgen gäbe. Luz lässt in seiner Adaption nichts weg von der Originalstory, oft konzentriert er Handlungsabläufe auf verdichtende Bilder, Simultanbilder oder andere originelle Wege der grafischen Abkürzung. Wie er den Bewusstseinsstrom einer erlittenen Vergewaltigung im zweiten Band in seitenlanges visuelles Chaos überführt, in dem Text und Bilder ineinandergleiten und kaum mehr Kohärenz haben, für uns Leser aber doch alles eindeutig und klar bleibt, das ist ein visueller Geniestreich der besonderen Art in diesem Buch, das ohnehin mit grafischen Ideen nicht geizt. Das geht nie auf Kosten der Erzählung. Die wird stetig vorangetrieben.
Im zweiten Band finden die Fäden des ersten Teils (hier zur Rezension auf Comicgate) zusammen. Vernon Subutex wird von seinen Freunden aufgerichtet und man entwirft gemeinsam eine locker flockige Hippie-Utopie, in der sich alles nur um Tanz und Spaß dreht, echte Lebensfreude das einzige Ziel. Aber an den Rändern manifestieren sich neue Dämonen: ein schurkischer Manager namens Max und eine fiese, an Machtfiguren wie Harvey Weinstein oder Dominique Strauss-Kahn angelehnte Figur namens Dopalet, dem zwei junge Frauen einen gewaltigen Denkzettel geben, was dieser aber nicht auf sich sitzen lässt und sich fürchterlich dafür rächt. Ein Strudel von Gewalt und Gegengewalt, der alles in den Abgrund zieht, ist die Folge.
Die Umarbeitung von Virginie Despentes Trilogie in zwei fette Comicbände ergibt von der erzählerischen Komposition her Sinn. Was Luz abliefert, ist viel mehr als eine werkgetreue Adaption. Es ist ein Spiel mit der Vorlage, eine Neuerfindung, eine Illustration, eine Liebeserklärung, ein Geschenk der Autorin an den Künstler und wieder zurück. Mit solchen treffsicheren Illustrationen, teilweise auch subversiven Anspielungen, wird die lesenswerte Vorlage zum Ereignis. Während ich aber den ersten Band der Adaption noch unter dem Eindruck der Vorlage las, habe ich mich in die Fortsetzung völlig ohne Vorkenntnisse fallen lassen. Das Lesevergnügen war dadurch fast noch größer.
Wer nach der Lektüre der beiden Bände Lust hat, sich mit den angeteaserten Songs in den beiden Comicbänden auseinanderzusetzen, dem seien die beiden Spotify-Playlists empfohlen, die sich ausdrücklich auf den Comic berufen. Außerdem empfehle ich den Woodstock-Auftritt von Sly Stone 1969 mit seiner „Sing this Song together“-Ansprache (ab Minute 28), in der ich eine richtig schöne Blaupause für die zweckfreie Utopie sehe, die in Vernon Subutex leider vergeblich angestrebt wird.
Vom Hippie-Traum zum Hippie-Alptraum. Visuell ausdrucksstark adaptiert.

Reprodukt, 2024
Text: Virginie Despentes
Zeichnungen: Luz
Übersetzung: Claudia Steinitz und Lilian Pithan
368 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 44 Euro
ISBN: 978-3956403903
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