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Bei mir zuhause

Zunächst mal war da die pure Einschüchterung angesichts Paulina Stulins 600-Seiten-Variante ihres kleinen Indie-Bravourstücks The Right Here Right Now Thing von 2014 – und der Zweifel. Würde das ichbezogene Erzählprinzip über die ganze Strecke tragen?

Alle Abbildungen © Jaja-Verlag

Am Anfang geht es ums Schlussmachen mit dem Partner – oder vielmehr: ums „richtige“ Schlussmachen mit dem Partner. Ein Ende auf Augenhöhe. Gesicht wahren als oberstes Gebot und ein Ende mit Würde. Paulina und ihr Partner fetzen sich ein letztes mal göttlich, und doch funktioniert die würdevolle Trennung – denn man teilt den gleichen schrägen Humor. Ich merke schon, das könnte was werden mit uns – also mit einer tragfähigen Beziehung zwischen Autorin und Leser.

Ich bin froh, dass ich Paulina Stulins Bei mir zuhause kennenlernen durfte, denn das Buch weckt verschüttete Erinnerungen an zahllose Nächte, die ich während meines Studiums in München durch die Nacht geradelt bin, auf dem Weg zu einer Fete oder von dort kommend, unterwegs mit Kumpels, ein Leben, das ich tödlich vermisse – und doch, wäre das noch 20 weitere Jahre so weitergegangen, ich wäre wohl nicht mehr hier, um das zu schreiben.

Nächtliches Fahrradfahren in der Stadt, während man in einer Stimmung ist, die Welt zu umarmen, das kann verdammt gefährlich sein, und so wird auch Paulina – also Comic-Paulina, das Alter Ego unserer Künstlerin – jäh aus einem Sommernachtstraum gerissen, als sie etwas breit (aber gar nicht so sehr) in eine Tramschiene gerät und sich dabei ordentlich den Ellenbogen stößt. Voller Endorphine wird zwar noch die Nacht durchgetanzt, aber irgendwann ist dann doch klar, das ist was Schlimmeres, am Ende halt doch ein gebrochener Ellenbogen. Es folgen zähe Wochen mit Gips und eine so schmerzhafte wie öde Zeit der Rekonvaleszenz, doch irgendwann geht dann doch das Leben wieder los und Paula startet neu durch ins pralle Leben.

Another perfect day

Es ist gar nicht so leicht zu beantworten, wieso man sich so in diese Alltagsimpressionen fallen lassen mag, die sich doch gar nicht so sehr vom eigenen Leben unterscheiden, doch geht von Paulina Stulins Erzählweise ein ganz eigener Zauber aus. Fast wie im klassischen Stillleben geht es in diesen Alltagscomics nicht um eine Geschichte, die uns klüger machen will, sondern konsequent um die Auseinandersetzung mit dem, was ist. Das spiegelt sich auch in den zahlreichen Gesprächen, die Paulina im Laufe der Geschichte mit immer neuen Nebenfiguren führt, oft recht lebensnah in Szene gesetzt, gar nicht reduziert auf Talking Heads.

Oft sind die Themen so aktuell wie relevant: Einmal geht es um einen Mitmenschen, der die Evolutionstheorie als gleichwertig gegenüber dem biblischen Schöpfungsmythos einordnet, für Paulina verständlicherweise ein untragbarer Gedanke, gegen den sie leidenschaftlich andiskutiert und doch zu keinem Ergebnis kommt. Weitere philosophische und politische Gespräche folgen – und immer wieder ertappe ich mich selbst als Leser bei dem Gedanken, dass ich teils anders argumentieren würde und dass ich das Gespräch vielleicht zu einem anderen Ergebnis führen könnte. Aber das ist erstens ein vermessener Gedanke und zweitens überhaupt nicht das Anliegen dieses Comics, je ein Thema zu einem Ergebnis zu führen. Wir haben hier einen authentischen Streifzug durch unterschiedlichste Gedankenwelten – und gerade dieses Unendliche, stets weiter Mäandernde, lässt uns den Puls des Lebens spüren.

Darkness Awaits

Paulina ist eine überzeugte Atheistin und radikale Individualistin, die ihre Ressourcen und ihre Kraft konsequent aus sich selbst schöpft. Wir teilen mit ihr auf 600 Seiten zahlreiche Episoden der Euphorie, die sich – das ist wunderbar in Szene gesetzt – endlos anfühlen, wie eine Sommernacht mit viel Bier und Musik und dem Wissen, dass morgen auch keine wichtigen Termine sind. Aber manchmal – und gar nicht so selten – teilt sie mit uns auch den Horror vor dem Nichts, der immer wieder hervorzubrechen droht, wenn die Freude an der Freiheit wortwörtlich von einer Sekunde auf die andere in Einsamkeit zerbröselt, wenn widrige Umstände, wie der Ellenbogen, deutlich machen, dass die Party von einem auf den anderen Moment vorbei sein kann, wenn das politische Klima dich lähmt und deine Mitmenschen nicht so kräftig und leidenschaftlich sind, wie du sie gerne hättest.

Stets findet Paulina aus den zahlreichen Tiefs, die ihr widerfahren, in ein neues Hoch zurück, doch nicht von ungefähr endet das Buch – gerade als sie neue Kraft schöpft – mit einem weiteren Blick in die Ferne und sie sieht wieder „that long cold dark“, die große Leere hinter allem. Ob dieser Lebensentwurf der richtige ist? Aber was sonst?

Wie kühles Bier in einer Sommernacht

9von10Bei mir zuhause
Jaja-Verlag, 2020
Text und Zeichnungen: Paulina Stulin
612 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 35 Euro
ISBN: 978-3-948904-00-5
Leseprobe

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