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Tony Sandoval – Ein windiger Tag & Eine Ode an das Meer & Die Leiche und das Sofa

Nachdem Tony Sandovals Wasserschlangen so gut ankam, hat Cross Cult gleich mehrere weitere Comics aus der Feder des mexikanischen Autors und Zeichners veröffentlicht: Ein windiger Tag, Eine Ode an das Meer und Die Leiche und das Sofa.

Tony Sandoval ist schon weit einigen Jahren sehr aktiv, aber in Deutschland wird er erst wahrgenommen, seitdem Wasserschlangen 2021 (zuerst 2018) erschienen und von vielen Comic-Fans mit Begeisterung aufgenommen worden ist (hier euphorisch rezensiert für comic.de). Bei Cross Cult folgten inzwischen Doom Boy (2022, zuerst 2013), 1000 Stürme (2022, zuerst 2021) und Volage (2023, zuerst 2022). Manche besser (1000 Stürme), andere weniger, wie etwa Volage, für das Sandoval nur die Zeichnungen beigesteuert hat.

2020 war Sandoval in Deutschland praktisch unbekannt, aber inzwischen liegen zahlreiche seiner Comics auch auf deutsch vor. Alle Abbildungen © Cross Cult / CroCu

In den vergangenen Monaten sind drei weitere Titel erschienen, zwei davon unter dem recht jungen Cross-Cult-Imprint mit dem witzigen Namen CroCu (seit Herbst 2022) für eine jüngere Zielgruppe, oder wie es auf der Website heißt: „CROCU, das ist ein kleines tapsiges Krokodil, welches euch mit auf eine abenteuerliche Reise nimmt. Folgt dem CROCUdil in einen wahrhaften Lesedschungel und taucht ein in eine abenteuerliche Welt bestehend aus Schätzen der Kinder- und Jugendliteratur.“

Ein windiger Tag und Eine Ode an das Meer sind CroCu-Titel, lassen sich aber auf der Website wiederum nicht finden, sondern nur bei Cross Cult. Seltsam, aber das passt zu der Stimmung in Tony Sandovals Comics, wo nichts ist, wie es scheint.

Ein windiger Tag

Sommer, Sonne, Sonnenschein – ein verträumtes Geschwisterpaar spielt im heimischen Garten. Während der Bruder seine Spielzeugsoldaten für die alles entscheidende Schlacht aufbaut, bemalt die Schwester ihren Lenkdrachen, den sie gleich steigen lassen möchte. Aber für ein kleines Mädchen, Drachen hin oder her, kann die Umgebung schon furchteinflößend sein: Lauern nicht gruselige Gestalten im Dunkel des Waldes? Drohen nicht zwielichtige Luftpiraten, den Drachen zu zerstören? Selbst die freilaufenden Hühner ängstigen sie.

Als eine Gruppe bizarrer Kobolde, mit überdimensionierten Zylinderhüten und Totenkopfsymbolen bekleidet, aus einer dunklen Wolke herabsteigen und das Mädchen terrorisieren, erweisen ihre Ängste sich plötzlich als ganz real. Als Retter in der Not taucht ausgerechnet ein gewaltiges Tier, „halb Hund, halb Wolf“ aus dem Dickicht auf und verjagt die Kobolde. Sie reitet auf ihm, und alle Ängste sind verschwunden: „Seit diesem Tag ist der Wolfshund mein Freund und gibt mir Selbstvertrauen. Ich habe ihm den Spitznamen ‚Mut‘ gegeben.“

Die Geschichte erweist sich als Allegorie auf das Überwinden kindlicher Ängste. Letztlich findet das Mädchen im Moment der größten Unsicherheit den Mut und behält ihn fortan als treuen Begleiter. Auch vor den Hühnern hat sie nun keine Angst mehr.

Interessant wird die Geschichte nun dadurch, dass die Ängste eben nicht als ihre Einbildungen visualisiert werden, sondern als reale Anfeindungen erscheinen. Die Waldmonster gibt es. Die Kobolde gibt es. Und die Hühner, naja, die auch. Damit nimmt Sandoval die Ängste vollkommen ernst und tat sie nicht von vornherein nach dem Motto „Stell dich nicht so an!“ ab.

Die Monster sind für das Mädchen so real wie für uns Leser*innen auch. Zumindest gibt Sandoval uns keinen Grund, an der Existenz der herrlichen Waldmonster oder Luftkobolde zu zweifeln.

Dass der Halb-Wolf-halb-Hund ihr aber mehr oder weniger zufällig über den Weg läuft bzw. er eine Spielkameradin sucht, bringt die Allegorie kräftig in Schieflage: Kommt Mut einfach um die Ecke? Ausgerechnet dann, wenn es brenzlig wird? Und solange einfach abwarten und Hühner meiden?

Ein windiger Tag ist ein wunderschön aquarelliertes Bilderbuch für Kinder, wenn auch kein Comic. Die Moral von der Geschichte ist nicht ganz konsequent zu Ende gedacht, aber natürlich fällt es leicht, sich mit dieser Pointe zu identifizieren: mutig ist eben besser als nicht-mutig. Ein wenig Fantastik hält zwar Einzug in dieses zuerst 2014 veröffentlichtes Bilderbuch, aber das ist noch weit unterhalb des Grüffelo – und es reicht auch nicht an Oma Agathe heran.

P.S.: Axel-Scheffler-Leser*innen verstehen das …

Die Leiche und das Sofa

Mit Stephen Kings „Stand by Me“ lehnt der Verfasser des Klappentextes sich weit aus dem Fenster, immerhin ist die Kurzgeschichte („The Body“ 1982) bzw. die Verfilmung unter unter dem deutschen Titel Stand by me – Das Geheimnis eines Sommers (1986) nicht nur durch seine jugendliche Starbesetzung ein Jugendfilm-Klassiker für eine ganze Generation mit Stars wie River Phoenix, Wil Wheaton, Corey Feldman, Jerry O’Connell, Kiefer Sutherland und John Cusack. Und tatsächlich: Auch bei Sandoval geht es um die Entdeckung der Adoleszenz und die Suche nach einer Leiche.

Der junge Polo trifft auf die mysteriöse Sophie, und die beiden Außenseiter erkennen einander sofort in ihrer Andersartigkeit: „Du bist ein komischer Vogel“, sagt sie, aber das gilt für das Mädchen mit den schwarzen Pupillen ganz genauso. Die beiden führen Gespräche, die auf den ersten Blick altersuntypisch klingen, aber das ist nur die herablassende Perspektive von Personen, die zu schnell zu alt geworden sind: „Ist dir schon mal aufgefallen, dass Makel die Dinge interessanter machen?“ Das ist die Tiefe, die Menschen erreicht, wenn sie nicht sich mit Steuererklärungen, Versicherungen oder Fragen der Altersvorsorge beschäftigen müssen.

Und ebenso plötzlich schlägt das Niveau in der Unterhaltung zwischen Sophie und Polo auch wieder um: „Ich mag dich. Willst du zu mir nach Hause kommen? Ich habe einen Fernseher mit 180 Kanälen?“ Zu 180 TV-Sendern kann Polo natürlich nicht „nein“ sagen, auch wenn ihn schnell die körperliche Nähe zur attraktiven Sophie auf dem Fernsehsofa weitaus mehr fasziniert als die Flimmerkiste.

Auf dem abendlichen Rückweg von diesem unverhofften Date entdeckt Polo am Wegesrand ein Skelett, ohne Zweifel der Leichnam des jungen Christian, der vor einiger Zeit verschwunden ist. Er teilt dieses Geheimnis zunächst nur mit Sophie, und plötzlich kommen die beiden sich näher. So nahe, wie zwei neugierige Jugendliche sich halt kommen können.

Wir folgen der Perspektive von Polo, und es ist es nicht überraschend, dass Sophie auch etwas Dämonisches hat. Ist sie ein Werwolf? Oder ein vielköpfiges Schlangenmonstrum? Die Bilder, die Sandoval für diese Transitionsphase findet, überzeugen vollauf und visualisieren die unbekannten Gefühle, die Polo erst langsam entdeckt: Eifersucht und Begehren.

Nebenbei lösen sie den Mordfall an Christian und treffen einen echten Werwolf – Tony Sandoval entwirft in Die Leiche und das Sofa eine Geschichte über Liebe und Tod, schwankend zwischen realistischer Coming-of-Age-Story und Fantasy, so wackelig wie die großen Köpfe auf den dünnen Hälsen. Ein fantastischer Balanceakt, in seiner Bildsprache und seinem thematischen Fokus stark an Wasserschlangen erinnernd. „Fantastisch“ nicht im Sinne von „saucool“, sondern von Tzvetan Todorovs Fantastikdefinition. Aber saucool ist es auch.

Eine Ode an das Meer

Bei dem dritten Titel im aktuellen Programm handelt es sich um den CroCu-Titel Eine Ode an das Meer, um ein illustriertes Kinderbuch, zu dem Sandoval die Zeichnungen beigetragen hat, Pablo Carbonell die Geschichte.

Ein Mädchen findet am Strand ein Schneckenhaus, das zu ihr spricht: „Ihr lebt in den Tag hinein und missachtet völlig, was immer ich euch in den Sand mag schreiben.“ Aha, der König der Meere (sie hat es sofort erkannt) haust in diesem Schneckenhaus und schimpft das Mädchen aus, stellvertretend für die gesamte ökologisch-unverantwortliche Menschheit: „Komm und sieh selbst, dass das Meer wegen des Mülls nicht lacht.“ Das Wasser erfasst sie und zieht sie unter die Meeresoberfläche, wo sie die Fauna und Flora des Meeres bestaunt und sich einsichtig gibt: „Wir müssen ein für allemal aufhören mit Ausbeutung und Schleppnetzfischerei, die Vielfalt der Korallenriffe zu zerstören, denn sonst bricht unsere Welt entzwei.“

Es klingt in der Übersetzung unfreiwillig komisch, wie das Mädchen zwischen Modern-Konkretem (Schleppnetzfischerei) und Altmodisch-Bildhaftem (die entzweibrechende Welt) wechselt, aber das ist symptomatisch für den gesamten Text, der nirgends „poetisch“ (so das Versprechen des Klappentextes) wird, sondern fast durchgehend umständlich, bemüht und holprig klingt:

„Auch die maßlose Gier zu unterdrücken
das unersättliche Konsumieren.
Das Meer sollte sich nicht damit schmücken,
als Grab der Schönheit zu existieren.“

Immerhin ein korrekter Kreuzreim, wenn auch die Metrik etwas frei ist. Das Bemühen um eine pseudopoetische Sprache befreit aber nicht von den Regeln der Rechtschreibung, sofern man nicht Jandl, Gomringer oder Schwitters heißt. Und auch Kinder haben so viel Sprachgefühl, um zu bemerken, dass hier manches nicht ganz richtig klingt.

Und abgesehen davon? Es mag angesichts des lobenswerten Zieles, Menschen zum Schutz der Ozeane zu motivieren, pingelig erscheinen, über Kommas, Tippfehler oder eine unglückliche Satzstellung zu schwadronieren, aber auch das Essen schmeckt nun einmal besser, wenn es nicht mit dem groben Klappspaten auf dem Teller arrangiert wird. Hinzu kommt, dass die umweltpolitische Botschaft keinem Sechsjährigen mehr etwas Neues zu erzählen hat. Die Geschichte ist zu offensichtlich nur der Anlass, um ökologische Selbstverständlichkeiten zu formulieren. Und das ist so unattraktiv geraten, dass man es weder lesen noch vorlesen möchte.

***

Tony Sandoval ist auf jeden Fall interessanter, wenn er seine eigenen Geschichten schreibt. Sein Talent liegt in der Vagheit des Fantastischen, in seinen atemberaubenden Zeichnungen, seinen markanten Figuren, deren Köpfe auf so fragilen Hälsen sitzen, dass man ständig Angst um sie haben muss. Aber diese Angst ist natürlich so unbegründet wie diejenige des Grüffelo vor der kleinen Maus.

6 Punkte auf der Grüffeloskala:

6von10Ein windiger Tag
CroCu, 2023
Text und Zeichnungen: Tony Sandoval
Übersetzung: Martin Knopp
32 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 15,00 Euro
ISBN: 978-3-98743-093-0
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Dicht dran an Wasserschlangen:

9von10Die Leiche und das Sofa
Cross Cult, 2023
Text und Zeichnungen: Tony Sandoval
Übersetzung: Martin Knopp
95 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-98666-216-5
Leseprobe

Gut gemeint, aber ihr wisst schon …

3von10Eine Ode an das Meer
CroCu, 2024
Text und Zeichnungen: Pablo Carbonell und Tony Sandoval
Übersetzung: Joaquim Balada Hartmann
40 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 15,00 Euro
ISBN: 978-3-98743-097-8
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