Rick Remender und Sean Murphy lassen die zukünftige Welt von Tokyo Ghost an einem seidenen Faden baumeln.
Im Jahr 2089 ist alles eingetreten, was wir schon immer befürchtet haben: Die Bewohner von Los Angeles (aber nicht nur die) verlassen ihre digitale Komfortzone bestenfalls noch, um ein mörderisches Autorennen mitten durch die Stadt zu bestaunen, alles andere reißt niemanden mehr vom Hocker. Kein Zoo. Kein Naturkundemuseum. Kein Baggersee. Die Bevölkerung ist in eine tiefe Abhängigkeit von den politisch gesteuerten Massenmedien geraten, zappt rastlos zwischen aufdringlichen Konsumaufforderungen und Pornoangeboten hin und her. Diese digitale Ersatzwelt ist traurigerweise sogar das beste Angebot auf dem Markt, denn die Wirklichkeit ist dank der ökologischen Verantwortungslosigkeit unerträglich: „Jetzt ist das Wasser so giftig, dass es deine Haut auflöst. Und selbst wenn nicht … niemand macht so was [wie Baden] noch. Alle flüchten sich vor der Realität in elektronische Opiumhöhlen. Nur ich bin übrig …“
Ich – das ist Debby Decay, die von Kleinauf der Technologie skeptisch gegenübersteht, und dazu hat sie allen Grund: Als ihr Kindheitsschwarm und Jugendfreund Teddy sich nicht gegen eine brutale Jugendgang zur Wehr hat setzen können, die ihre Gewalttaten damals live per Stream veröffentlicht hat, hat er sich entschlossen, seinen Körper technologisch zu pimpen. Das Constable-Programm bietet die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Nanobots zu besseren (d.h. stärkeren, klügeren, attraktiveren etc.) Versionen seiner selbst zu machen. Teddy mutiert zu Constable Led Dent und versinkt sogleich in einer tiefen Abhängigkeit digitaler Angebote, ist für Debby kaum mehr zu erreichen. Außerdem sind alle Menschen, die sich Nanobots haben implementieren lassen, anfällig für Manipulationen durch den Schurken Davey Trauma, der wiederum ein Handlanger des Oberschurken Flak ist.
Um ihren geliebten Teddy (alias Led Dent) aus seiner Abhängigkeit zu befreien, lässt Debbie sich auf einen Deal mit Flak ein. Die beiden reisen nach Tokyo, um deren Verteidigungsanlagen zu zerstören, so dass Flak die Rohstoffe der Stadt plündern könne. Für Debbie und Teddy ist Tokyo aber zugleich ein utopischer Zufluchtsort mit intaktem Ökosystem, einer stabilen und liberalen Gesellschaft und einer grundsätzlich kritischeren Einstellung gegenüber Technikkonsum. Als sie dort ankommen, finden sie dort die Grundlagen für ein Zusammenleben, das in Los Angeles noch undenkbar war. Kurzum: Sie möchten dort bleiben, aber wie es allzu häufig der Fall ist: Die Dämonen der Vergangenheit holen sie wieder ein.
Rick Remender (Black Science, Low, Deadly Class) und Sean Gordon Murphy (Punk Rock Jesus, The Wake, Joe the Barbarian, The White Knight) haben eine sehr düstere und sehr grausame Zukunftsvision entworfen. Tokyo Ghost ist eine Dystopie, wie es sie derzeit zuhauf gibt. Sie sind so zahlreich, dass man gar nicht erst anfangen sollte, sie aufzuzählen, denn die meisten zukünftigen Gesellschaftsentwürfe sind abschreckende Beispiele dafür, wo uns die Reise ökologisch, politisch, sozial oder kulturell hinführen wird. Ich frage mich, wo die Utopien eigentlich sind? Gibt es noch optimistische Zukunftsentwürfe, die einen Weg erahnen lassen, wie wir eine Zukunft gestalten können, die lebenswert ist, ohne naiv daherzukommen?
Zeichnerisch erinnern viele Panels an Murphys White-Knight-Serie, die Murphy als Zeichner und Autor zugleich konzipierte. Manches Mal erahnt man den Joker hinter Davey Trauma und Batman hinter Led Dent. Die Technikskepsis wiederum hat starke Parallelen zu Murphys Riesenerfolg Punk Rock Jesus (2012–13). Manches Mal nehmen die Szenen schon sehr skurrile Formen an, so etwa, als ein von Flak völlig hingerissener Reporter plötzlich sein Mikrofon wegwirft und sich der erotischen Anziehungskraft des nackt vor der Kamera thronenden Flak hingibt. Harter Tobak und ähnlich derb wie Remenders gerade auf Deutsch erschienener Comic Scumbag, wenngleich erheblich mehr auf die Dekadenz einer ganzen Gesellschaft bezogen, besonders die Medien und die Politik. In der Zusammenschau klingt die Kombination von Medienkritik und dem politischen Totalversagen zusammen mit der Kontrolle der Menschen mittels Nanobots schon arg nach aktuellen Verschwörungsphantasien. Keine Frage, Tokyo Ghost bedient sich mit viel Leidenschaft aus der bizarren Bilderflut solch obskurer Gedankenwelten, stammt aber aus den Jahren 2015 und 2016 und ist somit älter als die ähnlich klingenden, aktuellen Schwurbeleien von Impfskeptikern.
Die Entwicklung von Sean Gordon Murphys zeichnerischem Stil zu verfolgen, ist höchst spannend. Seine Frühwerke erinnern zwar in manchen Perspektiven oder Panelanordnungen an seine aktuellen Comics, auch die kantigen Gesichter zeigen sich schon in seinen frühen Comics wie dem mangaesken Off Road (2005) oder Crush (2003, mit Jason Hall als Autor), aber die Detailtiefe und seine markanten ausgearbeiteten Hintergründe, die einen wesentlich Teil der Stimmung evozieren, sind im Frühwerk noch wenig ausgeprägt.
Spätestens seit Joe, the Barbarian (2010–11) mit Grant Morrison als Autor, hat Murphy einen Stil gefunden, der bis heute sein Markenzeichen ist. In Tokyo Ghost machen diese intensiv ausgestalteten Szenen vor allem in den ersten Kapiteln einen großen Teil der Faszinationskraft aus, die von diesem Comic ausgeht.
Tokyo Ghost ist in zehn Heften im Monatsrhythmus zwischen September 2015 und August 2016 bei Image Comics erschienen und wurde 2017 dort als Gesamtausgabe veröffentlicht. Die aktuelle deutsche Gesamtausgabe umfasst noch etwas Bonusmaterial (Zeichnungen und Skripte), die noch einmal deutlich machen, wie großartig Murphys Zeichnungen doch sind. Er übernimmt das Inking selbst und arbeitet gern in Schwarzweiß, und das steht seinen Comics wie dem fantastischen Punk Rock Jesus sehr gut, aber die stimmungsvolle Kolorierung von Matt Hollingsworth macht Tokyo Ghost nur umso lesenswerter. Es ist sehr zu begrüßen, dass diese düstere Dystopie nun auch in Deutschland verfügbar ist, zumal die Veröffentlichung als Gesamtausgabe (ohne dass die Serie zuvor in Deutschland erhältlich war) nicht ganz gewöhnlich ist.
Drastische Science-Fiction
Splitter Verlag, 2022
Text und Zeichnungen: Rick Remender, Sean Murphy, Matt Hollingsworth
Übersetzung: Katrin Aust
272 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 44,00 Euro
ISBN: 978-3-96792-257-8
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