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Streets of Glory

Schon als eine Gruppe Outlaws zu Anfang des Westerncomics Streets of Glory die beiden Brüder Pete und Frank attackiert, geht es grausam zur Sache. Ab dem Moment aber, als sich das Blatt wendet und der rettende Engel aus dem Hinterhalt die Outlaws allemacht, ist klar: Das hier ist Ennis-Gebiet. Anstelle von good and clean kills wird da schon eher mal einem der Unterkiefer weggeschossen, wonach der Getroffene allerdings noch ein paar Seiten lang durch die Gegend läuft und dabei zu verstehen versucht, was ihm jetzt gerade passiert ist. Ist das die „Neugier auf das Innere des Anderen“, von der der Filmwissenschaftler Prof. Dr. Marcus Stiglegger in seinen Essays über Splatter-Movies geschrieben hat?

Wenn man merkt, dass das Leben, wie man es bisher kannte, vorbei ist … © Dantes Verlag.

Der hochgefahrene Splatter bei Garth Ennis und Mike Wolfer sorgt aber nicht unbedingt für mehr Realismus. Dafür ist er zu grotesk und lüstern. Als ästhetisches Manifest wider einer unangemessenen Sauberkeit hat er aber einigen Reiz. Anstelle eines Angriffs auf das Auge, viele Jahre lang der Tabubruch des Zeigbaren, gibt es hier wiederholt das ungehemmte Zerlegen von Körpern bei vollem Bewusstsein, Abreißen des Unterkiefers, Ausweiden, Skalpieren, Abschneiden von Fingern und Genitalien, den Mund zunähen. Auch wenn die Gewaltspitzen dosiert eingesetzt werden, wird doch plausibel, wie die Gewalt die Souveränität über den eigenen Körper beschädigt. Das hat eine andere Dimension als das klassische Ausschalten einer Figur durch den vermeintlich so sauberen Abschuss in klassischen Westerngeschichten. In Garth Ennis‘ Geschichten ist es immens schwierig, unversehrt zu bleiben.

Streets of Glory ist aber kein Horror-Western, sondern erzählt vielschichtig vom Übergang des Wilden Westens in eine modernere zivilisierte Zeit (, der vermutlich bis heute noch nicht völlig abgeschlossen ist). Ein alter Veteran aus dem Sezessionskrieg kommt in die Stadt. Nach dem Ende des Civil War 1865 war er beteiligt am schmutzigen Krieg gegen die Ureinwohner, aber nun, an seinem Lebensabend, möchte er versuchen, das Feuer alter Liebe neu zu entfachen. Gleichzeitig tritt ein undurchsichtiger Geschäftsmann mit seinem Tross auf den Plan, und während man sich zunächst beobachtet, beschnuppert und sondiert, sucht auch noch ein dämonischer Indianer die Stadt heim und schlachtet eine Familie ab. Eine reizvolle, teils abstoßende, stets fesselnde Mischung aus Kriminalfall und Familiengeschichte nimmt Fahrt auf.

Garth Ennis beweist in Streets of Glory erneut, dass er in den engen Grenzen von sechs Heften pointiert und zielstrebig erzählen und dabei vielen Figuren Präsenz und Bedeutung geben kann. Mike Wolfer gelingt es darüber hinaus, seitenlange Dialogszenen in ruhigen Bildern in Szene zu setzen, ohne dabei visuell auch nur auf einer einzigen Seite zu langweilen. Auch die zentrale Actionsequenz ist mitreißend in Szene gesetzt und dabei verstörend und irreal genug, dass man sich die Panels bei allem Erzähltempo dennoch in Ruhe ansehen sollte – für die Kunstform Comic ein echter Heimvorteil.

The hands that built America.

In Teilen ist Streets of Glory eine Meditation über den Preis, den es kostet, inmitten von Chaos eine Zivilisation zu errichten. Dabei ist es nur folgerichtig, dass sich außerhalb der Ränder der Zivilisation nicht nur die Regeln des Zusammenlebens auflösen, sondern auch die sorgfältig gezogenen Grenzen über den eigenen Körper. Oder anders gesagt: Da draußen kann man sich seines Skalps einfach nicht sicher sein.

Großartiger Western aus der Schmuddelecke

8von10Streets of Glory
Dantes Verlag, 2022
Text: Garth Ennis
Zeichnungen: Mike Wolfer
Übersetzung: Jens R. Nielsen
160 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 20 Euro
ISBN: 978-1592910649
Leseprobe

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