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Stray Toasters

Wer nach den ersten drei Seiten von Bill Sienkiewicz‘ Stray Toasters noch nicht aufgegeben hat, wird über 200 Seiten lang wilde Collagen unter Einsatz verschiedener Techniken erleben dürfen. „Genießen“ wäre zu viel versprochen, denn die komplexe Kriminal-Story ist ein wahrer Fiebertraum.

Alle Abbildungen © Splitter Verlag

Es könnte so einfach sein: 1 Mörder + 1 Opfer + 1 Ermittler = 1 Kriminalgeschichte. Und wenn man die Zahl der Beteiligten etwas skaliert (2 Mörder, 10 Opfer …) kann es je nach erzählerischer Stringenz immer noch überschaubar bleiben. Dass Stray Toasters aber viel komplizierter als die meisten Morderzählungen ist, liegt nicht an der Figurenkonstellation, sondern an der Erzählweise: Wer nach den ersten drei Seiten noch nicht aufgegeben hat, wird über 200 Seiten lang wilde Collagen unter Einsatz verschiedener Techniken erleben dürfen. „Genießen“ wäre sicherlich zu viel versprochen, denn die komplexe Kriminal-Story ist ein wahrer Fiebertraum. Die Handlung ist genauso erschreckend wie die Darstellungweise monströs ist.

Anhand der ersten Seiten lässt sich schon verdeutlichen, worin die Herausforderung besteht. In dem Kapitel „Blut und Orangen“ lernen wir zunächst eine Erzählstimme in roten Textboxen kennen: „Der Familienkreis ist ein Dreieck. Und ein Dreieck hat spitze Ecken.“ Das ganzseitige Panel zeigt im Vordergrund eine Reihe von Fotos, Zeichnungen, Flaggen etc., und im Hintergrund sehen wir, halb überdeckt von den Urlaubsartefakten, ein zahnbewehrtes Monster mit langen Hörnern und einem Koffer. „Bis bald, Schatz, amüsier dich — und schreib mal“ lesen wir eine andere Stimme, deren Ursprung außerhalb der Seite liegt. „Phil bricht auf“, lesen wir dann wieder in rot, aber sofort macht die Handlung einen Sprung.

Gegenüber begegnet uns nun ein anderer Seitenaufbau: In drei Zeilen mit je vier Panels sehen wir zunächst schwarz und dann, während wir immer weiter herauszuzoomen scheinen, erkennen wir die beiden Schlitze eines Pop-up-Toasters. Auch hier haben wir verschiedene Stimmen, diesmal nicht in Sprechblasen, sondern in Captions: schwarz auf grau in einer auffälligen Schreibmaschinentype, dann schwarz auf weiß in der Standardschrift des Comics. Wir folgen (mutmaßlich) dem Gespräch einer Therapeutin mit einer Patientin über einen zornigen Partner. Die Seite endet mit „Miststück“ (schwarz auf grau), so dass wir vermuten, dass hier der Partner spricht.

Zu diesem Zeitpunkt haben wir erst eine Figur gesehen (das gehörnte Monster), aber schon mehrere Stimmen gehört, deren Sprecher nicht im Bild zu sehen sind und die wir so auch nicht in ihren Beziehungen zueinander genau zuordnen können, wenngleich wir Anhaltspunkte haben. Text und Bild wiederum klaffen in der Toastersequenz maximal aueinander, denn es sind offenbar nicht zwei Brote, die sich während des Röstens miteinander unterhalten. Oder etwa doch? Wer spricht hier? Und zu wem? Und wer hört zu? Ist dieser der gleiche wie jener? Die Erzählweise von Sienkiewicz zielt darauf ab, die Leser*innen zu verunsichern, und wie könnte Horror spürbarer werden als durch die ständigen Selbstzweifel beim Lesen?

Ein bizarrer Mordfall ruft den ausrangierten Kriminalpsychologen Egon Rustemagik auf den Plan. Nachdem er in einer Nervenheilanstalt behandelt worden war. Er führt derzeit eine Liebesbeziehung mit Dahlia und ist seit kurzem Autor eines erfolgreichen Buches, das bei den Kollegen nicht gut ankommt, aber sein Kinderbuch ist schon in Arbeit. Sein Alkoholkonsum sollte ihm Sorgen machen, aber ein wenig gehört das zum Klischee eines Polizisten dazu.

Deborah Dissler wurde nun also mit Bohrmaschine und Stromschlägen getötet. Sie hatte zwar keine Kinder, hatte aber zusammen mit dem Täter, einem übermannshohen Wesen mit Toasterkopf, einen Jungen namens Todd in ihrer Obhut: Toast und Marmelade sind sein Lieblingsessen, so wie es auch der Gerichtsmediziner an den Körpern von 11 Kinderleichen entdeckt. Hinter dem Mordfall steckt also weitaus mehr als nur ein einziger Mord.

Aber damit ist erst an der Oberfläche gekratzt, denn als Leser*in muss man selbst rekonstruieren, welche Sequenz als Zeitsprung, als Phantasie, als symbolisch zu interpretieren ist. Durch wiederkehrende Elemente und Verfremdungen bildet der Comic eine Traum- oder Rauschlogik ab, die allerlei Interpretationsspielraum lässt.

Fotos und Strichzeichnungen, Wasserfarben und Kohle, Sienkiewicz braut aus allen möglichen künstlerischen Techniken eine brodelnde Suppe. Er kleckst, klebt, ritzt und pinselt, und während man sich schwitzend vor Anstrengung durch die Kapitel blättert, jeder Seitenwechsel so aufreibend wie eine knarrende Tür im Horrorfilm, verliert man allmählich die Kontrolle über die Lektüre. Jeder Versuch, die einzelnen Szenen im Laufe der eigenen Lektürearbeit zu einer kohärenten Geschichte zu destillieren, scheitern beim ersten Lesen. Beim zweiten Mal wird es besser, vesprochen. Und ab dem vierten Durchmarsch wird manches entweder klarer, oder man ist der Rauschlogik so vollkommen verfallen, dass das Widersinnige plötzlich Sinn ergibt. Ich habe nur wenige Comics gelesen, die mein Verständnis von den Grenzen des Mediums so sehr verschoben haben wie Stray Toasters.

Bill Sienkiewicz hat Stray Toasters zwischen Juni 1988 und Januar 1989 in vier Heften beim Marvel-Imprint Epic publiziert, und bislang ist niemand hierzulande auf die verrückte Idee gekommen, dieses schwerverdauliche Projekt deutschen Leser*innen zuzutrauen. Neben Stray Toasters sieht alles andere nach prätentiösem Mainstream aus. Wer es etwas weniger verstörend mag, ist mit der Moby-Dick-Adaption von Sienkiewicz (hier rezensiert von Christian Muschweck und mir) übrigens besser bedient. Diesen Comic nun auf Deutsch zu verlegen, ist ein Aufbegehren gegen gewinnorientierte Verlagsarbeit, aber auch ein Plädoyer für zeitlose Comic-Kunst abseits von Trends und Moden.

200 Seiten Fiebertraum für die Ewigkeit

10von10Stray Toasters
Splitter Verlag, 2021
Text und Zeichnungen: Bill Sienkiewicz
Übersetzung: Bernd Kronsbein
224 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3-96792-172-4
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