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Moby Dick

Christian und Gerrit haben sich die Moby-Dick-Adaption von Bill Sienkiewicz, erschienen bei Splitter, genau angesehen und diskutieren ihre Eindrücke in der folgenden Dialog-Rezension.

Christian: Die erste Veröffentlichung von Bill Sienkiewicz‘ Moby Dick erschien 1990 im Rahmen der Comicreihe Classics Illustrated, genauer gesagt, in der interessanten zweiten Reihe dieses legendären Konzepts. Die ursprüngliche, sehr bekannte Classics-Illustrated-Serie endete nach 30-jähriger Laufzeit ja bereits 1971. Die zweite Serie, diesmal bei First Comics, war dagegen kurzlebig und ging nur von 1990 bis 1991. Die Reihe war ambitioniert und viele interessante Künstler arbeiteten daran, unter anderem Kyle Baker, Peter Kuper oder eben Bill Sienkiewicz, dessen Moby Dick nun bei Splitter neu aufgelegt ist.

Alle Abbildungen © Splitter Verlag

Ich möchte diese zweite Classics-Staffel nicht über den grünen Klee loben, denn vieles war ebenso wie in der ursprünglichen Reihe eher gepflegte Langeweile, die kaum mehr als Plot-Summaries vermitteln konnte, das aber oft auf hohem zeichnerischen Niveau in außergewöhnlich großer stilistischer Bandbreite. Es waren so manche Höhepunkte darunter, z.B. Peter Kupers Version von Upton Sinclairs The Jungle oder eben Bill Sienkiewicz‘ Moby Dick. Wenn ich die Situation richtig einschätze, wurde diese Version von Moby seit 1990 nie wieder veröffentlicht, geschweige denn in einer angemessenen Version, denn die Classics von First waren natürlich im schmalen Heftchen-Format. Schon deshalb ist jegliche Kritik an dieser Ausgabe eigentlich fehl am Platze, denn die Veröffentlichung dieser raren Perle ist ohne jeden Zweifel verdienstvoll. Eine kleine Einordnung ist aber sicher angemessen.

Gerrit: Diese „rare Perle“ kann kaum jemand so gut würdigen wie du als Moby-Dick-Adaptions-Experte (hier zu Christians monumentalem Artikel). Ich muss zugeben, dass mir der Roman, ein 900-Seiten-Trumm, das Bekenntnis abnötigt, dass ich ihn noch nicht gelesen habe (steht aber schon griffbereit im Regal). Letztlich wird das aber den meisten so gehen, wobei der Inhalt spannenderweise auch ohne Lektürekenntnis als bekannt vorausgesetzt werden kann. Daran könnte die populäre Verfilmung mit Gregory Peck (1956) mitschuldig sein, aber auch die zahlreichen Comicadaptionen von Will Eisner, Chabouté, Roy Thomas sowie Pierre Alary und Olivier Jouvray, die du in deinem Moby-Dick-Rundumschlag vergleichst.

Meistens sind Literaturadaptionen ja durchschaubare Aktionen, um mit relativ wenig kreativem Einsatz an große Literaturerfolge anzuknüpfen. Das ist hier überhaupt nicht der Fall, denn Splitter hat mit den beiden soeben ins Programm aufgenommenen Sienkiewiecz-Comics (Moby Dick und Stray Toasters) zwei Titel eingekauft, die sicherlich schwer verkäuflich sein werden, Stray Toasters noch mehr als Moby Dick. Aber nicht, weil sie schlecht wären (ganz im Gegenteil!), aber sie sind wenig massentauglich.

Da darf man als Leser*in schon mal zusammenzucken, wenn der, den wir gerade nur als Silhouette erahnt haben, plötzlich ganz plastisch hervortritt

Was mich sofort beeindruckt, sind die wilden Arrangements von Sienkiewicz, der zeichnet, malt, klebt, kratzt und spritzt, so dass jede Seite eine Herausforderung ist, weil man sich fast von Panel zu Panel neu orientieren muss. Als er den Menschenfresser Queequeg mit einer schwarzen, kantigen Silhouette und direkt darauf einer sehr realistischen Nahaufnahme von dessen tätowierten Gesicht einführt, erzeugt das eine beeindruckende Atmosphäre (ganz anders als die cartoonigere Adaption von Jouvray und Alary).

Christian: Bill Sienkiewicz ist schon unerreicht in dem, was er macht. Das sieht man auch an seinem Jimi-Hendrix-Comic (1995), der ebenfalls noch nie auf Deutsch verlegt wurde. Selbst in dem besonders abgegriffen und kommerziellen Genre des Musikcomic setzt er ungewöhnliche Akzente und findet Bilder und Layouts, die sich kein anderer Mensch auf unserem Planeten überhaupt hätte vorstellen können. Sienkiewicz‘ Kunst entfaltet vor allem in kommerziellen und konservativen Kontexten ihre maximale Wirkung, wie eben der Literaturadaption, der Musikerbiografie oder auch – siehe seine Zusammenarbeiten mit Frank Miller – im Actioncomic. Bei allen diesen Arbeiten entstehen Spannung und interessante, neue Perspektiven.

Wenig beeindruckend finde ich lediglich den Comic, den Sienkiewicz für Neil Gaimans Sandman-Universum anfertigte: Neil Gaiman gewann Sienkiewicz für das Delirium-Kapitel seiner Endless-Nights-Anthologie (2003), eben weil Sienkiewicz‘ Kunst ähnlich delirierend und trippy wirkt wie das Innenleben seiner Figur Delirium. Im Nachhinein betrachtet war Sienkiewicz‘ Einsatz für diese Story recht klischeehaftes Typecasting.

Seinen Moby Dick kann ich an jeder beliebigen Stelle öffnen und kurz anlesen, und schon habe ich einen guten Eindruck von dem, was Melvilles Buch im Innersten ausmacht. Das mag in Teilen auch der guten Textstrukturierung von D.G. Chichester geschuldet sein, der im Schatten seines Künstlers wohl nur selten die Anerkennung bekommt, die ihm vielleicht zukommen sollte. Aber natürlich sind es Sienkieweicz‘ Bilder, die dieser Adaption ihre Sogwirkung geben.

Gerrit: Mir gefällt dein Gedanke, dass Sienkiewizc am stärksten wirkt, wo sein ‚arty‘ Stil mit Mainstream-Genres kollidiert. Das macht ja seine anarchistische Gestaltung auch im Detail aus, das unvermittelte Aufeinanderprallen von Stilen, Materialien und Perspektiven.

Eine besondere Herausforderung entsteht natürlich aus dem Format der Classics Illustrated: Während Jouvray & Alary sich auf 128 Seiten und Chabouté (mit seinen langen stummen Passagen) sich auf 256 Seiten austoben konnten, mussten Chichester und Sienkiewicz mit 48 Seiten klarkommen. Deshalb sind die Arrangements manchmal auch recht textlastig, aber als einzige der drei Adaptionen transportiert diese die enzyklopädischen Passagen, so in der vergleichenden Übersicht verschiedener Wale auf Seite 24.

Jede der Seiten wäre es wert, im Großformat an der Wand zu hängen. So etwa das ganzseitige Porträt von Käptn Ahab, der uns en face anstarrt (Seite 36), die Hände verkrampft auf Hüfthohe haltend, und sein Kopf ist gesäumt von 63 im Raum schwebenden Zähnen, die ein Maul zu formen scheinen, so als ob Ahab dem Wal nie ganz entkommen sei. Der Comic verurteilt dazu, ihn immer wieder an anderer Stelle aufzuschlagen, so zwanghaft, wie Ahab ’seinen‘ Wal jagt.

Ahab ist dem Wal nie so recht entkommen.

Christian: Und die enzyklopädischen Passagen wirken hier nicht willkürlich und pflichtschuldig platziert, sondern vervollständigen das facettenreiche Puzzle. Sienkiewicz und Chichester machen das Unfassbare und Ungeheuerliche begreiflich: Hier sehen wir die Hände, die das moderne Amerika bauen, Zivilisation und archaische Barbarei, alles gleichzeitig.

Mythos, Wissenschaft, Abenteuergeschichte, Reportage: In jedem Molekül der Erzählung kommt das große Ganze zum Vorschein. Manchmal hat man das Gefühl, bei Sienkiewicz und Chichester noch mehr als bei Melville. Aber das ist sicher ein Trugschluss.

C10von10hristians Fazit: Beispiellose Literaturadaption. Überwältigend.

 

 

 

9von10


Gerrits Fazit: ‚Nur‘ 9 Punkte, weil
Stray Toasters sonst keinen Platz mehr auf der Skala hätte.

 

 

Moby Dick
Splitter, 2022
Text: D.G. Chichester, nach der literarischen Vorlage von Herman Melville
Zeichnungen: Bill Sienkewicz
Übersetzung: Gerlinde Althoff
48 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 16,00 Euro
ISBN: 978-3967921670
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