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Shamhats Liebhaber

Dreiecksgeschichte nach einem alten Mythos: Die schöne Shamhat steht zwischen dem grausamen König Gilgamesch und dem verträumten Schöngeist Enkidu. Charles Berberian versucht, aus einer alten Heldentragödie einen luftigen Erotikcomic zu pressen.

Alle Abbildungen © Reprodukt

Das altbabylonische Gilgamesch–Epos gilt im Moment (also: seit etwa 100 Jahren) als die älteste erhaltene Geschichte der Welt mit Anfang, Mitte und Schluss. Die 3000–4000 Jahre alte Fabel erzählt von einem König (einem Halbgott, denn das waren die früher alle), der anfangs als fieser Gewaltherrscher, schließlich als weiser Zivilisationsstifter gegen die Gesetze der Natur und den Zyklus des Lebens aufbegehrt, sich nicht über die Tragik des Todes hinwegtrösten lässt und sich für den Fortschritt entscheidet. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Gilgameschs Männerfreundschaft zu dem Tiermenschen Enkidu (den die Götter eigentlich als Korrektiv und Gegenspieler für Gilgamesch ins Rennen und auf die Erde schicken). Mit Gilgameschs Einsicht in die Unumkehrbarkeit von Enkidus frühem Tod beginnen trotziges menschliches Selbstbewusstsein und ein goldenes Zeitalter.

Das Gilgamesch-Epos ist gleichzeitig also die prototypische patriarchale Geschichte übers Machen, Kämpfen und Bauen (und war vermutlich genau deswegen so beliebt und einflussreich, dass es erhalten blieb) und eine umfassende Kritik an patriarchalischen Vorstellungen sowie eine Huldigung des Kreatürlichen. Außerdem ist es einer der wenigen Hinweise darauf, dass es tatsächlich einmal matriarchalische Kulturen gegeben haben könnte, denn von diesen grenzt sich Gilgamesch wütend ab. Nicht zuletzt steht als Doppel- und Tripelagentin die Tempelhure Shamhat zwischen Gilgamesch, Enkidu und der von Gilgameschs Machotum düpierten Liebesgöttin Ishtar.

Das ausschweifende Liebesspiel mit Shamhat macht aus dem stumpfen Enkidu erst einen Menschen, ihr sind zum Teil sehr lyrische Passagen früher erotischer Literatur gewidmet, und ihre eigene Agenda bleibt in dem erhaltenen (unvollständigen) Text unklar. Gute Voraussetzungen also für eine Neuerzählung aus ihrer Sicht, und Charles Berberian, einer der beiden Köpfe hinter dem melancholischen Frauenanschmachter Monsieur Jean, wäre dafür auch wirklich keine schlechte Wahl.

Was er hier für den Comicverlag des Louvre abgeliefert hat, vermeidet jedoch bewusst jede Wucht und Wichtigkeit: Hier plätschert eine Nichtgeschichte über eine Frau zwischen zwei Männern vor sich hin wie die Parodie einer französischen Liebeskomödie oder wie ein schwächeres und dafür sexlastigeres Abenteuer von Monsieur Jean. Erotische Szenen in etwas verstörend niedlicher Kritzeloptik wechseln sich ab mit anthroposophisch anmutenden Landschaftsbildern. Die Liebesgöttin Ishtar, die im Mythos als Antagonistin unter anderem Enkidu erschafft und tötet sowie Gilgamesch zu einem naturverbundenen Leben bekehren will, fällt ebenso vollständig weg wie Gilgameschs Mutter und seine Reise durch die Unterwelt. Gilgameschs ausladene Trauer um Enkidu wird zum nachdenklichen Blick ins Weite eingedampft. Und der stinkende Schafsmensch Enkidu sieht hier schon vor der Beseelung und Zähmung durch Shamhat aus wie ein metrosexuelles Nacktmodell, das für Green Smoothies wirbt. Zum Ausgleich für so viel Harmonie ist Berberians Gilgamesch von außerordentlicher Grausamkeit und Skrupellosigkeit (ohne je eine tiefgreifende Läuterung durchzumachen).

So ist der Band so etwas wie eine pornographische Kinderbibel ohne Gott und voller verstörender Bettgespräche über Folter und Exekutionen. Angelegte Konflikte werden unter hübschen Bildern und fahrig nachdenklichem Geplauder begraben. Der spärlichen Handlung und den dafür recht umfangreichen Dialogen ist ohnehin relativ schwer zu folgen (nicht zuletzt, da die mythischen Motive gleichzeitig als bekannt vorausgesetzt und zum Teil drastisch verändert werden). Berberian wird, vermutlich, für sich in Anspruch nehmen, den tieferen Sinn der alten Geschichte gegen den Strich gebürstet (Entschuldigung: dekonstruiert) zu haben, aber er hat ihn eher ersatzlos gestrichen. Das Gilgamesch-Epos fungiert hier, wie in mythischen Gemälden aus der Renaissance, als eher egales narratives Alibi für die Darstellung von Sinnlichkeit. Ernstere Momente wirken entsprechend wie irritierende Querschläger und hinterlassen ein Gefühl von unklarer Bedrücktheit. Am Ende des Bandes nachgereichte Anmerkungen handeln eindringlich von Berberians ambivalentem Verhältnis zum heutigen Irak als Motor des Projekts und von seiner Begeisterung für kulturelle Artefakte, aber er hat nicht einmal versucht, das in Story zu übersetzen, geschweige denn in die Geschichte von Gilgamesch.

Nun ist es Berberian trotzdem hoch anzurechnen, eine eigene erotische Bildersprache jenseits jeder Pornoästhetik entwickeln zu wollen (die dazu auch weniger nach Belgischer Schule aussieht als nach einer Kreuzung aus amerikanischer Graphic Novel und Chagall, plus ein paar beim Louvre wohl unvermeidlicher Zitate – ein viriler Stier sieht natürlich aus wie ein Picasso). Die individuelle Reaktion darauf ist vermutlich etwas sehr Persönliches. Und ich persönlich finde das Ergebnis auch nicht unbedingt unsympathisch, nur über die Dauer von hundert Seiten hinweg ziemlich schrecklich. Wesentlich überzeugender kommen mir die Versuche vor, das ehemalige Mesopotamien in leuchtenden Erdfarben und verwaschenen Aquarellen einzufangen.

Seltsam putziger, undeutlich abgründiger Erotikcomic nach einem alten Mythos, der gerne charmant und positiv wäre. Auf hohem Niveau nicht Fisch und nicht Fleisch. Etwas für Liebhaber.

6von10Shamhats Liebhaber – Die wahre Geschichte von Gilgamesch
Reprodukt, 2022
Text und Zeichnungen: Charles Berberian
Übersetzung: Silv Bannenberg
132 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-395640-307-1
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