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Schwarze Gedanken

Meisterwerk oder ein Relikt der Zeitgeschichte? Franquins schwarzhumorige Kurzcomics aus der Zeit des Weltuntergangs erscheinen als wertige Gesamtausgabe ohne Schnickschnack.

Alle Abbildungen © Carlsen Comics

Es gab eine Zeit, da waren Bonsai-Kinder, menschenfressende Möwen und gepanzerte Igel hierzulande bekanntere Schöpfungen von André Franquin als das Marsupilami und der Graf von Rummelsdorf und möglicherweise auch als Gaston. Noch häufiger als heutige angesagte Graphic Novels wurden die Schwarzen Gedanken von Menschen verehrt, zitiert und zu allen Gelegenheiten verschenkt, die andere Comics nicht mit der Kneifzange anfassten (ich glaube, für WGs war bis mindestens Mitte der 1990er mindestens ein Exemplar im Regal gesetzlich vorgeschrieben). Einzelne Blätter hingen kopiert oder herausgerissen an WG-Türen, über Küchentischen und natürlich, seufz, auf den Toiletten. Mit intimer Kenntnis der Schwarzen Gedanken konntest du als schüchterner Schüler auf einer Party zumindest eine Zeit lang das Gespräch mit klugen Studentinnen am Laufen halten. Bilder, Sätze, Ideen aus den Schwarzen Gedanken waren Memes, bevor irgendjemand wusste, was das war. Anlässlich des 100. Geburtstags von Franquin hat Carlsen eine neue Gesamtausgabe der zwischenzeitlich vergriffenen Kultserie (ja, hier passt das Wort) aufgelegt. „Der beste Comic aller Zeiten“ prangt auf der französischen Ausgabe ein Zitat der Wochenzeitung L‘ Obs (irgendwo zwischen Spiegel und Zeit). Stimmt das?

Zu den vielen kleinen und großen Comics, Bildern und Schnipseln, die André Franquin 1977 für die Trombone Illustré, die kurzlebige Erwachsenenbeilage der Zeitschrift Spirou, beisteuerte, gehörten makabre Kurzcomics in Schwarzweiß, ursprünglich in der vereinfachten Optik von Scherenschnitten. In der ersten Folge tötet ein schicker neuer Stuhl seinen geizigen Produzenten, der nur billiges Material verbaut hat, in der zweiten wird ein Gewehr vorgestellt, das den Jäger erschießt, während der Hase fröhlich davonhüpft. Der glückliche Hase kriegt, sorgfältig gezeichnet, noch einen Extraauftritt außerhalb der Bildzeilen, verwässert damit den Witz und sabotiert das graphische Konzept, aber weist emotional und ästhetisch plötzlich weit über makabre Cartoons hinaus. Damit waren die Grenzen gesteckt, innerhalb derer sich die Schwarzen Gedanken für etwa sieben Jahre und insgesamt 65 Gags bewegten, in deren Verlauf die Folgen länger und die Zeichnungen immer aufwändiger wurden. Diese Nicht-Serie, die lange Zeit nicht einmal einen Titel trug, wurde dabei vom Künstler von Anfang an penibel durchnummeriert. Nach dem erwartbaren Ende der Trombone Illustré zog Franquins schwarzes Theater auf die Seiten von Fluide Glacial um, einem satirischen Magazin, das so etwas wie die intellektuelle französische Antwort auf amerikanische Undergroundcomix war (und in Deutschland neben ihnen in U-Comix nachgedruckt wurde). Als einziger Starzeichner seiner Generation warf sich Franquin damit in die aufgewühlten Zeitläufte und stellte sich an die Seite jüngerer und berüchtigter Kollegen.

In Fluide Glacial war Gotlib für Medienparodien und Abrechnungen mit französischen Institutionen zuständig, Edika für surrealen obszönen Slapstick und der später beim Charlie-Hebdo-Attentat ermordete Wolinski für Witze über sexuelle Neurosen. Franquins Metier waren, nun, schwarze Gedanken, Alptraumvisionen und gallige Pointen, wie sie melancholischen Menschen im Angesicht von Aufrüstung, Umweltzerstörung und allgemeiner Gemeinheit immer wieder kurz durchs Hirn huschen, gebannt und für die Ewigkeit veredelt durch wahnwitzig aufwändige Graphik. Die anfänglichen Schattenrisse wurden nach und nach durch millimetergenau mit dem Rapidographen gestrichelte Zeichnungen in einem (nach Aussage des Meisters) „schimmeligen“ Look abgelöst (sehr viel Weiß zwischen dem Schwarz), die beinahe dreidimensional wirkten. Da Franquin seinem ureigenen Stil grundsätzlich treu blieb und der ganze Kontinent mittlerweile seit Jahrzehnten Kindercomics im Stil von Franquin zeichnete, stellte sich beim Lesen ein eigenartiger Effekt ein: Die „Schwarzen Gedanken“ konterkarierten keine vertrauten, niedlichen Zeichnungen mit derberen Inhalten (wie etwa die Porno-Parodien von Roger Brunel), sondern führten die Ästhetik von Spirou nachdenklich und nur wie nebenbei provokant in dunklere Bereiche. Das war gleichzeitig anheimelnd und unheimlich, freundlich und überaus gemein und erzeugte bei einem damaligen Publikum im Teenager- und Studentenalter eine einzigartige Mischung aus Nestwärme und Erwachsenwerden. Eine ähnliche grimmige Unschuld boten ansonsten erst ein gutes Jahrzehnt später die frühen Staffeln der Simpsons.

Die hier versammelten Gags sind aus heutiger Sicht ganz und gar nicht „zynisch“ (wie es früher gelobt und getadelt wurde), allerdings auch nicht unbedingt brüllend komisch und, bis auf ein zwei gallige Ausnahmen, auf recht liebe Art makaber. In rund einem Viertel der Folgen schlägt die Natur zurück gegen die, die sie ausnutzen und zerstören, ein weiteres Viertel funktioniert nach dem Prinzip „Wer anderen eine Grube gräbt…“ und beschert dummen und bösen Menschen (Kapitalisten, Konservative, Militaristen, Alltagswiderlinge) passende Enden (berühmtestes Beispiel ist der Todesstrafenbefürworter, der von seinem Fenster geköpft wird). Etwa sieben Mal (das hängt ein bisschen von der Definition ab) kommt es zu einer atomaren Apokalypse, ebenso viele Episoden spielen in recht abstrakten Gefängniswelten, etwa fünf Mal wird der Kapitalismus (ohne Nammensnennung) an und für sich angegriffen. Die verbleibenden ca. 20 Blätter funktionieren nach dem Prinzip „Shit happens!“ und waren ganz sicher die entscheidende Inspiration für (unter anderem) die gleichnamige Cartoonreihe von Ralf Ruthe. Auch sie erhalten durch die sorgfältige graphische Gestaltung aber immer einen eigenartig wehmütigen Mehrwert.

Die meisten Gags positionieren sich recht eindeutig in Bezug auf ein damals heiß diskutiertes Thema auf der progressiven Seite. Dauergegner sind Ausbeutung, Ignoranz. Profitstreben und kultivierte Niedertracht. Im Vergleich zu Franquins Spirou kommt Faschismus nur noch als fernes Echo und beunruhigende Möglichkeit vor. In Bezug auf heutige engagierte Comics fällt auf, dass Rassismus, Sexismus und sexuelle Intoleranz als Themen nahezu vollständig fehlen (sie wurden allerdings in anderen Rubriken von Fluide Glacial aufgegriffen) und dass die eindeutige Positionierung, trotz lachender Hasen, nicht anhand von „guten Figuren“ (die gibt es nicht) und „bösen Figuren“ (die sind beinahe alle zumindest bemitleidenswert) erfolgt und nicht ihr eigenes Gutsein herausstreicht, sondern in vielen, vielen Graustufen und Nuancen ausgedrückt wird, wie es früher für Kultur und Gegenkultur üblich war.

In den frühen 1980er Jahren waren die progressiven, linken und alternativen Kunstwerke tendenziell verstörend und tabubrechend. Sie waren es auf melancholischere und humorigere Art als in den 1960ern (und damals waren nur die wirklich avantgardistischen Werke aufwühlend gewesen). In den 1980ern dagegen rückte für ein paar Jahre eine gewisse selbstverständliche, beinahe aufgeräumte Bitterkeit weit in den Mainstream der westlichen Kultur, der Katzenjammer nach den als gescheitert empfundenen Aufbrüchen der 1960er und 1970er. Im Unterschied zu heute galt gerade der augenzwinkernde Tabubruch als Markenzeichen für „Safe Spaces“, in denen sich sensible Menschen sicher fühlen konnten, denn die bösen Menschen machten auf gute Laune, übersahen gezielt die Abgründe der Welt und die drohenden Katastrophen (und zwinkerten nicht mit den Augen). Das erfolgreichste Beispiel für diesen Trend war sicherlich der bittersüße Hörspiel/Buch/Fernseh/Computerspiel- Erfolg Per Anhalter durch die Galaxis, immer geschrieben von Douglas Adams (nach seinem Tod kamen später noch Kino und Comic als Medien dazu), der damit beginnt, dass die Welt untergeht (was vermutlich einfach auf Gier und Dummheit, vielleicht aber auch auf absurd entgleiste philosophische Diskussionen zurückzuführen ist). Der (inhaltlich sehr viel komplexere) Anhalter stand damals häufig neben den Schwarzen Gedanken im Regal (was vermutlich ebenfalls gesetzlich vorgeschrieben war). „Gefühl und Härte“ lautete eine beliebte, wiederum augenzwinkernde, Parole. (Im Laufe der 1980er ging der Zeitgeist dann noch stärker ins Spielerische, – und André Franquin z.B. beendete seine makabre Reihe, erlaubte plötzlich Marsupilami-Merchandising und zeichnete das Wundertier auch wieder. Aber die Schwarzen Gedanken verfestigten sich, genau wie der Anhalter noch für eine ganze Weile als Kultobjekt für beunruhigte Menschen mit Spaß am Absurden.)

Ästhetisch zeigen die Schwarzen Gedanken Franquin auf der Höhe seiner Kunst. Der gleichzeitige Kampf der Figuren gegen grelles Weiß und entweder unheilvoll wuselndes oder undurchdringliches Schwarz wird beinahe zu einer fortlaufenden Meta-Erzählung der Serie. Die Detailbesessenheit und der für Franquin charakteristische Schwung im Ausdruck sorgen dafür, dass selbst die bizarrsten Verrenkungen und seltsamsten Kreaturen glaubwürdig über das Papier zu hüpfen scheinen. Lebendig gewordene Fernsehmasten, planetengroße Labyrinthe und lauernde Monsterhorden können gar nicht anders aussehen (wenn ein zynischer Dosenfleischhersteller selber in der Dose landet, wird es aber außerhalb des Bildes erzählt). Franquin entpuppt sich dazu als meisterhafter Szenarist: Seitenaufteilung und Blickführung könnten nicht immersiver sein. Die sonst deutlich subtileren Franquin-Gesichter gehen hier und da beinahe ins Fratzenhafte, um bei all dem Dunkel und Halbdunkel noch lesbar zu bleiben, aber streifen trotzdem höchstens die Grenze zum Witzblatt. Die eigentlichen Attraktionen sind der stimmige Gesamtentwurf und die morbide, disziplinierte Pracht der Zeichnungen: diese beseelte und brüchige Schwarzweißwelt ist aus einem Guss und lässt sich in ihren Verformungen und Verästelungen immer wieder stundenlang erkunden.

Im Vergleich zu den legendären Ausgaben vom Volksverlag und alpha comic verlag sind Reproduktion und Übersetzung hier ein bisschen feiner, und das auf besserem Papier und im Hardcover. Abgesehen von einer launigen Interviewcollage mit dem Meister, ein paar Skizzen und einem sehr informativen Abriss von Volker Hamann über die bisherigen deutschsprachigen Ausgaben (der deutschsprachige Schriftzug, in dem u.a. die eine Hälfte des „H“s die andere würgt, wurde von Franquin höchstselbst entworfen und gezeichnet. Natürlich. Dieser Mann war eine einzige Selbstverschwendung) beinhaltet dieses Buch nur die nummerierte eigentliche Serie. Wichtige Nebenprodukte wie die gemeinsamen Arbeiten mit Gotlib, der Comic für Amnesty International und die fulminanten Monsterkritzeleien fehlen hier vollständig. Solches Bonusmaterial war vor fünf Jahren in dem nun auch schon wieder vergriffenen Band Es waren einmal Schwarze Gedanken enthalten, in dem dafür der hier versammelte Kanon nicht vollständig abgedruckt war (klassische Comicalben werden ähnlich erschütternd ausgewertet wie klassische Popalben, zumal es zumindest im europäischen Comic nicht einmal eine Taylor Swift gibt). Die Herausgabe des puren Stoffs passt allerdings zur einer Serie, die eben nicht in Luxusausgaben und völlig ohne Beipackzettel eine Zeit lang beinahe allgegenwärtig war.

Brauchen wir einen Comickanon, anerkannte Meisterwerke, Bestenlisten, angeblich für die Ewigkeit? Vermutlich nicht. Aber vermutlich brauchen wir trotzdem alle die Schwarzen Gedanken, Gefühl und Härte.

Genialische Geistesblitze und üppige Schnipsel, zum Teil angestaubt, zum Teil ein bisschen simpel, alles andere als ein großes Opus, aber trotzdem ein Meisterwerk.

Schwarze Gedanken Gesamtausgabe10von10
Carlsen Comics, 2024
Text und Zeichnungen: André Franquin
Übersetzung: Marcel Le Comte u.a.
Begleittext: Volker Hamann
80 Seiten, Schwarzweiß, Hardcover
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-551-79839-8
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