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Das Schiff der verlorenen Kinder 1 – Nr. 4213

Kindheitsängste sind so wunderschön konkret: Während Erwachsene sich vor steigender Inflation, prekärer Altersabsicherung oder unberechenbaren Energiekosten fürchten, zittern Kinder vor Werwölfen, Tentakelmonstern und Gruselclowns. Das Schiff der verlorenen Kinder spielt mit diesen Ängsten.

Alle Abbildungen © Splitter Verlag

Leo und Felix spielen in der Wohnung und sind so völlig in ihr Rollenspiel vertieft, dass wir Leo nicht als Jungen wahrnehmen, der im Badezimmer tobt, sondern als einen (echten) Bären, der in einer Badewanne nach Lachsen fischt. Wir teilen voll und ganz die Wahrnehmungsperspektive der kindlichen Phantasie und schrecken zusammen, als zunächst der alkoholisierte Vater das Badezimmer betritt und dann die Mutter, deren elterliche Vernachlässigung sich in ihrer zwanghaften Fokussierung auf ihr Mobiltelefon ausdrückt. Klick – Ping – Ping.

Es kommt zu einem Streit, und nachdem die Mutter und Leo einander gewünscht haben, sich nicht mehr sehen zu wollen bzw. kindlich-konsequent: nie mehr sehen zu wollen, beginnt das Abenteuer, denn plötzlich lässt die Zimmertür sich zwar nicht mehr öffnen, es  tut sich aber ein anderer Ausweg auf. Das Fenster transformiert sich in ein Bullauge, und hinter diesem erstreckt sich eine neue, unbekannte Welt. Und auch die Tür führt plötzlich nicht mehr in den Flur der elterlichen Wohnung, sondern in die Gänge eines gigantischen Schiffes. Leo und Felix sind nun auf dem Schiff der verlorenen Kinder.

Dieses ist kein Traum- sondern vielmehr ein Alptraumschiff. Als sie vorsichtig durch die Gänge schleichen, die von Kabinentüren mit seltsamen Beschlägen gesäumt werden, treffen sie plötzlich auf einen Werwolf, der mit seinen messerscharfen Krallen tiefe Furchen in die Metalltür schlägt. Die beiden haben schon verstanden, dass Realität und Magie plötzlich schwer zu trennen scheinen und greifen ihn mit Zaubersprüchen und einer silberbestückten Zwille an. So begegnen sie Chrissy, und sie ist nicht der einzige unverhoffte Passagier, mit dem sie auf diesem Schiff reisen …

Boris Koch und Frauke Berger (Grün), die zusammen bereits Die Schöne und die Biester (Splitter, 2020) geschaffen haben, greifen die jahrhundertealte Allegorie vom Schiff des Lebens auf, die sich etwa bei dem barocken Dichter Friedrich Logau findet: „Die Welt ist wie das Meer; ihr Leben ist gar bitter; / Der Teuffel machet Sturm; die Sünden Ungewitter.“ Koch und Berger lassen aber, ganz und gar unbarock, jegliche christliche Ausdeutung außen vor, die Bitterkeit allerdings ist sehr präsent.

Nicht nur das Schiff ist eine Metapher, auch die Türen, die von der trostlosen Realität einer grundunglücklichen Kindheit in eine wilde Phantasiewelt führen, sind eine Metapher für den Fluchtraum, den Geschichten uns bieten. Und die Monster sind nichts anderes als die bizarren Verkörperungen der Ängste, mit denen die Kinder in der Wirklichkeit umgehen müssen. Und wenn viele Elemente sich als Metaphern lesen lassen, spricht man von einer Allegorie. Die Kindheit wird so zu einer Horrorshow  á la Carrie, die Tür führt nicht in ein Wunderland wie bei Alice im Wunderland. Die Monster wiederum repräsentieren Urängste wie Horrorerzählungen in jedem Medium.

In einer langen und vielleicht etwas unmotivierten Rückblende des Erzählers erfahren wir, warum dieses marode Schiff mit dem Namen „Seelenfänger“ zwar einige Kinder und zahllose Monster an Bord hat, aber (womöglich) keinen Kapitän. Damit legen Koch und Berger die Grundlage für eine vielversprechende vierbändige Serie, deren zweiter Band für Oktober 2022 angekündigt ist. Frauke Berger, deren Debüt Grün (2018) viel positive Resonanz erfahren hat, wurde von den Rezensent*innen vor allem für ihre Zeichnungen, die viele an Moebius erinnerten, gelobt. In Das Schiff der besonderen Kinder lässt sich ihre Faszination für Mangas in der Panelgestaltung erahnen, und hier erinnern manche Details wie die Bedeutung von Hintergründen oder die sehenswerte Kolorierung an Tillie Walden.

Als sie das erste Monster in einem Showdown stellen, konzentriert sich Berger voll und ganz auf das Ungeheuer, dessen Bewegung die ganze perspektivische Darstellung unterworfen zu sein scheint: Mit dem sprunghaften Angriff des Werwolfs krümmt sich auch der Raum, die Proportionen der engen Gänge verändern sich und die Kinder werden so winzig, wie sie sich vermutlich gerade fühlen sollen. Dass der Hintergrund unverhältnismäßig karg wirkt, spiegelt natürlich die eingeschränkte Wahrnehmung der Figuren.

Berger und Koch haben eine seltsame, gespaltene fantastische Welt geschaffen, die neben oder hinter der Realität liegt und in der zwar Kinder agieren, deren Lektüre aber alles andere als Kinderkram ist. Frauke Berger sagte im Video-Interview, dass sie selbst erst die Handlung der ersten beiden Bände kennen würde. Hoffen wir, dass wir bald mehr erfahren dürfen.

 Kindheit ohne Kapitän?

8von10Das Schiff der verlorenen Kinder 1 – Nr. 4213
Splitter Verlag, 2022
Text und Zeichnungen: Boris Koch und Frauke Berger
136 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN: 978-3-96792-219-6
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