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Rückkehr nach Eden

Dass Wege immer irgendwohin, niemals aber auf direktem Weg zurückführen, weiß der spanische Autor und Zeichner Paco Roca natürlich – und das macht Rückkehr nach Eden zu einem kühnen Projekt.

Alle Abbildungen © Reprodukt

Wer zurück in die Vergangenheit strebt, steht vor einem unlösbaren Problem. Das gilt für jeden Versuch, Modernisierungsprozesse zurückzudrehen, für jede nachträgliche und trügerische Idealisierung der eigenen Vergangenheit („Früher war alles besser“) und auch für den nostalgischen Wunsch,  in die eigene Kindheit zurückzureisen. Heinrich von Kleist schrieb in seinen Gedanken über das Marionettentheater (1810), dass das Paradies leider „verriegelt“ sei, und „wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“ Mit anderen Worten: Was weg ist, ist weg – aber mal schauen, was geht.

Die Vorstellung von einem verlorenen ‚Goldenen Zeitalter‘ ist in der deutschen Kultur um 1800, in der literarischen Klassik und Romantik, wei t verbreitet. Die sehnsüchtige Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter ist vergleichbar mit dem Wunsch, die Unschuld der eigenen Kindheit noch einmal erfahren, noch einmal durch den Garten Eden einer sorglosen, idealisierten Zeit flanieren zu dürfen. Paco Roca (eigentlich Francisco José Martínez Roca, *1969) kennt den Geheimweg – die Erinnerung.

„Wir kämpfen unaufhörlich gegen das Vergessen, das die Vergangenheit auszuradieren versucht. Doch unsere Erinnerung ist begrenzt und trügerisch. Deshalb hat der menschliche Erfindergeist Mittel ersonnen, um Augenblicke in der Zeit festzuhalten. Wir haben die Zeichnung erfunden und die Schrift … und auch die Fotografie, die jedes Aufblitzen einer Existenz zu bewahren vermag.“

Paco Roca inszeniert eine biografische Spurensuche anhand dreier Fotografien, die seine Mutter aus ihrer Jugendzeit hinterließ. Er macht sehr anschaulich, welche Bedeutung die seltenen Fotografien hatten, ohne einen allzu billigen Vergleich zur heutigen Instagram-Bilderflut ziehen zu müssen – das überlässt er seinen Rezensenten.

Das zentrale Foto zeigt Antonia mit ihrer Familie an einem Strandtag des Jahres 1946, „vermutlich“ schränkt der Erzähler ein. Es ist aber nicht die ganze Familie zu sehen, und der Erzähler spürt jedem Detail mühsam hinterher: Warum sind ihr Vater Vicente, ihre ältere Schwester Vicentita und ihr Bruder, der LebenskünstlerBruder Pipo, nicht auf dem Bild zu sehen? Was ist aus dem Strand der Stadt Valencia geworden? Und was hat es mit diesem Tag auf sich? Die Spurensuche führt die Leser*innen durch mehrere Genrationen und fördert sehr unterschiedliche Lebensentwürfe zutage. Rückkehr nach Eden ist berührend – und es gelingt Roca, neben der Familienbiographie auch die dunklen Ecken der Franco-Diktatur auszuleuchten.

Mit der Detailfreude eines Familienchronisten schildert er die Bedrängnis, die Antonias Schwester Vicentita hat erfahren müssen, als sie mit Mann und Kind noch auf die Wohnung des Vaters angewiesen ist. Armut und Enge haben das familiäre Zusammenleben nicht einfacher gemacht, und als es schließlich zum Auszug kommt, verlieren die die Schwestern einander aus den Augen.

Es tut Erinnerungsbüchern gut, wenn sie ein Bewusstsein dafür erkennen lassen, dass das Erinnern ein aktiver Prozess ist, eine Neuschöpfung der Vergangenheit. Genau das tut Paco Roca, wenn er die alttestamentarische Vorstellung vom Garten Eden mit einem Zitat der Schöpfungsgeschichte beschreibt: „Und es ward Licht.“ Und weil damit auch das Blitzlicht des Fotografen (oder wegen des Handschriftcharakters die Schreibübungen von Antonia) gemeint sein könnte, ist der Anspielungsreichtum der Passage sehr ausgefeilt.

Bei Rückkehr nach Eden handelt es sich um das mütterliche Gegenstück zu la casa (Reprodukt, 2016), in dem es um die konkurrierenden Erinnerungen dreier Geschwister an ihren gemeinsamen, verstorbenen Vater geht. Zentraler Erinnerungsort ist darin das Sommerhaus des Vaters, das nun entrümpelt werden muss. In la casa zeichnete Paco Roca einen Müllcontainer und in runden Vignetten darüber verschiedene Kindheitsszenen, die eine Verbindung der Gegenstände zu der Vergangenheit herstellen: Wertvolle Erinnerungen treffen auf wertlosen Tand. Der Umgang mit Erinnerungen ist ein roter Faden, an dem entlang Roca die Leser*innen durch sein Werk, durch Familienbiografien und durch die spanische Landesgeschichte führt.

Diese Erinnerungsbücher, la casa und Rückkehr nach Eden, beide bei Reprodukt im identischen Querformat erschienen, lassen sich hervorragend nach-, mit- oder gegeneinander lesen, ohne dass eines ohne das andere unlesbar wäre. Und Rückkehr nach Eden wagt vor allem in der zweiten Hälfte des Bandes erzählerisch wie visuell um einiges mehr als die Geschichte des Vaters.

Was weg ist, ist weg, aber mal schauen, was geht

9von10Rückkehr nach Eden
Reprodukt, 2021
Text und Zeichnungen: Paco Roca
Übersetzung: André Höchemer
184 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-278-4
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