Jedes neue Werk von Marc-Antoine Mathieu ist eine Wundertüte. Längst ist die Passion des französischen Künstlers für clevere Comicexperimente kein Geheimnis mehr. Regelmäßig bricht er dafür grafische Strukturen auf, hinterfragt das Medium Comic und schickt den Leser auf Sinnesreisen. Nicht nur, aber bevorzugt, benutzt er dazu die Figur des Julius Corentin Acquefacques als Protagonisten, mit dem in Kürze bereits der sechste Band bei Reprodukt vorliegen wird. Mathieus aktuelles Buch Richtung erinnert von seiner Grundausrichtung her hingegen mehr an seinen, ebenfalls wortlosen, Comic 3 Sekunden.
In jenem durfte der Leser in einem anspruchsvollen Grafikpuzzle einem vorgegebenen Blick folgen, der über unzählige Reflexionen schließlich eine Geschichte zur Entfaltung bringt. In Richtung geht es ebenfalls um die Verfolgung eines bestimmten Weges, einer eindimensionalen Perspektive. Nur ist es hier ein anonymer Mann und nicht der Leser selbst, der sich lenken lässt. Mit Mantel, Hut und Koffer tritt er vor eine in der Dunkelheit platzierte Tür, deren Schlüsselloch die Form eines Pfeiles hat. Einmal hindurch geschritten, findet sich der Mann in einem endlos weiten Raum wieder bzw. in einer auf wenige Einzelmerkmale reduzierten Landschaft. Wie sich schnell herausstellt, gibt es dort im Grunde nichts weiter als Pfeile; große, kleine, dreidimensionale, zusammengesetzte.
In Ermangelung weiterer Orientierungsmöglichkeiten ergibt sich der Mann seinem Schicksal und verfolgt jeden neu auftauchenden Pfeil, egal ob dieser nun klassisch auf einem Schild als Wegweiser angebracht ist, wie eine schwimmende Eisscholle als Transportmittel fungiert oder erst aus dem Wüstensand ausgraben werden muss. Sklavisch wird getan, was die Pfeile einem vorgeben. Mathieu lässt seine Figur treiben, teilweise sogar buchstäblich über Wellen oder durch die Lüfte. Das Ziel dieser Unternehmung bleibt indes unklar.
Mit seinen kühlen, präzise arrangierten Bildern erzeugt Marc-Antoine Mathieu beim Leser ein Gefühl, das irgendwo zwischen Beklemmung und Neugierde rangiert. Und er greift wieder tief in die Trickkiste um das zugrunde liegende Thema seines neuesten Comics auf möglichst alle erdenkliche Arten kreativ auszuschöpfen. So ist in Richtung, dem Buch mit dem Pfeil, jeder dieser Pfeile potentiell nochmal in kleinere Pfeile zerlegbar. Und jeder kleinere Pfeil ist dann logischerweise auch nur Teil eines riesigen Pfeiles. Am Ende scheint im Mathieu‘schen Universum ohnehin die gesamte Welt miteinander verschmolzen zu sein und befindet sich im stetigen Wandel begriffen. Braucht der Mensch also etwas, das ihm die Richtung im Leben weist? Beobachtet man den stummen Protagonisten in diesem Band, der stoisch einen vorgefertigten Weg verfolgt, könnte man ob dieser Aussage pessimistisch werden. Vielleicht ist aber auch einfach der Weg das Ziel.
Es mag daran liegen, dass ich von Mathieus genialer Herangehensweise an verschachtelte Stories verwöhnt bin und an jedes neue Album mit äußerst hohen Erwartungen herangehe, aber gemessen an den bisherigen Arbeiten des Franzosen hat Richtung bei mir nicht für den entscheidenden Aha-Effekt gesorgt. Die Atmosphäre stimmt, die grafischen Spielereien sind ausgezeichnet. Das kennt und schätzt man als langjähriger Verfolger des Künstlers. Aber vielleicht fehlt diesmal die Prise Humor oder Absurdität, die man sonst von ihm gewohnt ist. Außerdem schleicht sich beim Lesen das Gefühl ein, dass die über 250-seitige Geschichte zwischen all dem Sich-treiben-lassen den ein oder anderen überraschenden Twist vertragen hätte. Was beileibe nicht heißen soll, dass der Comic schlecht wäre. Nein, er bewegt sich auf einem hohen Niveau. Zugleich muss man festhalten, dass es sich nicht um Mathieus beste Arbeit handelt.
Ein Lob geht unbeachtet dessen an die Gestaltung der deutschen Ausgabe. Das Buch macht ausgestattet mit Leinenrücken, gestanztem Spotlackrahmen auf Front- und Backcover und einem Faltposter (das integraler Teil des Comics ist) einen hervorragenden Eindruck.
Überall Pfeile: Marc-Antoine Mathieu beweist sich erneut als kluger, innovativer Erzähler
Reprodukt, 2015
Zeichnungen: Marc-Antoine Mathieu
256 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 29 Euro
ISBN: 978-3-95640-021-6
Leseprobe
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