Ein Kind stirbt, und seine Mutter trauert. Diese Geschichte erzählt die bisher als Kinderbuchillustratorin hervorgetretene Melanie Garanin in weitgehend weißen Bildern voller filigraner Tuschezeichnungen und bunter Tupfer und Wolken aus Aquarellfarbe.
Die Erzählerin (offensichtlich weitgehend mit der Zeichnerin identisch) schildert eine Bilderbuchidylle mit Mann und vier Kindern, mit Pferden und Hunden, irgendwo nahe der Großstadt in berückender Natur, die durch Krankheit und schließlich Tod des jüngsten Kindes verstört wird, ohne zu verschwinden. Unsere Heldin versucht, gegen die Trauer, gegen Hilflosigkeit und unscharfe Schuldgefühle anzuzeichnen. Sie steht knietief in Tränen, wird von einem brodelnden Unwetterhimmel verschluckt und fällt in die Dunkelheit. Sie zeichnet eine ganze Menagerie von Tieren (inkl. Einhorn) mit warm leuchtenden Kerzen auf dem Kopf und eine leere, mit gelben Ballons geschmückte Bank als Erinnerung an den „Himmelsgeburtstag“ ihres Sohnes, seinen ersten Todestag. Sie stellt sich Vögel vor, die aus Pietät aufs Zwitschern verzichten und flüsternde Steine. Die Welt erscheint ihr abwechselnd schmerzhaft leer und einladend beseelt, und häufig als beides zugleich.
Und sie verstrickt sich in einen Rechtsstreit mit dem behandelnden Krankenhaus.
Für solche Stoffe wurden „graphic novels“ erfunden. Und solche Comics können und müssen auch auf unangenehme und unvorteilhafte Weise subjektiv sein – unfair und unausgeglichen, selbstgerecht und paranoid. Wenn „graphic novels“ so häufig eine nette Hauptfigur im Konflikt mit einer gemeinen und idiotischen Welt zeigen, dann auch deswegen, weil wir uns alle selber so sehen. Wir alle haben Recht damit, und ein Comic ist eine passende Form, um sich darüber auszutauschen. Dazu sind Eltern, deren Kinder gestorben sind, genau so ein Tabuthema wie das reichlich brutale übliche medizinische Prozedere bei einem Todesfall und das Vertuschen von möglichen Behandlungsfehlern.
Trotzdem reizt die Künstlerin zumindest in meinen Augen nicht nur die Stärken, sondern auch die Schwächen autobiographischer Comics aus. Das Problem besteht weniger darin, dass die involvierten Ärzte als feige Würmer oder kühle Unmenschen dargestellt werden, die unter einer Decke stecken (und nur in Maschinenschrift sprechen, während alle anderen Figuren sich in ansprechender Schreibschrift äußern); sondern, dass sich nicht nur die Erzählerin, sondern der ganze Comic nach und nach in solchen Vorstellungen verliert, während wir gleichzeitig zu viel und zu wenig Informationen erhalten. Seitenweise sehen wir die furchtbaren Ärzte in wenig ergiebigen Kreuzverhören, in denen sie ungeschickt Fragen ausweichen, für deren Einschätzung uns entscheidende Informationen fehlen. Vielleicht musste aus rechtlichen Gründen auf medizinische, juristische und finanzielle Details verzichtet werden. Und vielleicht hat die ausladende Darstellung der gespenstischen, unpassend abstrakten Welt von stattgegebenen und nicht stattgegebenen Klagen auf Schmerzensgeld, von widerstreitenden Gutachten und ähnlichen Zumutungen, und die durchaus selbstkritisch dargestellte Flucht vor der Trauer in Scharmützel für Betroffene eine kathartische Wirkung. Die Erzählung schließt folgerichtig mit einer Rachephantasie.
Dies ist kein didaktischer Comic für Kinder, der behutsam an die Themenfelder von Krankheit und Tod heranführt, und gerade deswegen bleibt er in seiner Optik konsequent bilderbuchartig, bis zum bitteren Ende hin ohne zunehmende Verzerrungen. Auch und gerade wenn Trauer in all ihrer Ohnmacht visualisiert wird, bleibt die Graphik zart verschmunzelt. Denn Kulleraugen sind eine Lebenseinstellung, so wie Gänse mit Ritterhelmen Ausdruck einer Sensibilität sind, die sich angesichts der Härten der Welt nicht grundsätzlich ändert, sondern immer schon Ausdruck der Auseinandersetzung mit diesen Härten ist.
Dass es dem Comic gelingt, den augenzwinkernden Glauben an eine grundsätzlich gutartige Verbundenheit zwischen allen und allem in der Welt, für den wir Comics und Kinderbücher unter anderem lieben, und an die potentielle schöpferische Macht der persönlichen Empfindung, auch angesichts einer persönlichen Tragödie in seinen Abgründen darzustellen, macht aus dem Band, trotz mancher Schwächen, ein Ausnahmewerk.
Ein Ausnahmewerk
Carlsen, 2020
Text & Zeichnungen: Melanie Garanin
200 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3551760494
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