Unsere Autoren Jan-Niklas Bersenkowitsch und Gerrit Lungershausen haben das Comic-Debüt Message von Cristin Wendt und Ronja Büscher gelesen, und ihre Meinungen gehen auseinander.
Gerrit: Der erste Band der als Pentalogie angelegten Serie handelt von einem dystopischen Weltentwurf im Jahre 2167. Überbevölkerung und ein global gescheiterter Klimaschutz haben zur Folge gehabt, dass wir unsere Zukunft in die sorglosen Hände von Ingenieuren und Informatikern legen mussten. Sie haben Kiem entwickelt, eine Künstliche Intelligenz, die sich zunächst als gute Idee, bald aber als tatkräftiger Katalysator der Weltvernichtung erwiesen hat. Schließlich haben die Menschen sich entschlossen, ein Leben in technologisch weit fortgeschrittenen Militärbasen zu führen, während eine ominöse K.I. „draußen“, vom eigenen Netzwerk abgeschnitten, lauert. Avarus Saizev, der im Verlaufe eines Angriffs seinen Bruder Victor verloren zu haben glaubt, wittert ein Geheimnis um dessen Verschwinden. Eine rätselhafte Nachricht seines Bruders wartet in seinem Postfach, aber bevor er Gelegenheit bekommt, sie zu lesen, wird er angegriffen. Da es sich bei den handelnden Menschen offenbar um Cyborgs handelt, deren Blutkreislauf von Nanorobotern bewohnt und deren Körper mit einem Netzwerk namens Anhor verbunden ist, droht letzteres nun von dem K.I.-Netzwerk und einem Virus infiziert zu werden. Wie und ob und wann, wird erst im zweiten Band gelöst werden. Habe ich etwas Wichtiges vergessen?
Niklas: Nö, das ist die gesamte Handlung in wenigen Sätzen zusammengefasst. Cristin Wendt (Zeichnungen und Geschichte) und Ronja Büscher (Text) beschränken sich im ersten Band auf das Wesentliche, um die Welt und die Hauptfiguren einzuführen. Der erste Band einer Serie ist ja eh immer ein Versprechen und soll erstmal neugierig machen, um dann in Band 2 richtig loszulegen. Die Frage ist also, lieber Gerrit, hat dich der erste Band neugierig gemacht?
Gerrit: Ich war im Vorfeld sehr neugierig auf Message, weil mich das Thema „Künstliche Intelligenz“ sehr interessiert. Die gerade bei Splitter abgeschlossene SF-Serie Descender von Jeff Lemire und Dustin Nguyen ist ein schönes Beispiel, wie man das Thema vielseitig, anspielungsreich und dennoch actionfreudig umsetzt. Nach der Lektüre von Message war ich aber etwas enttäuscht. In der Exposition einer Serie möchte ich über die handelnden Personen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die Konflikte im Untergrund und den Schauplatz im Allgemeinen in Kenntnis gesetzt werden, kurz: Die Exposition soll mir ein Gefühl für die Welt vermitteln, in der die Akteure handeln. Über die Welt in Message erfahren wir aber wenig, auch kaum in Anspielungen oder Vorausdeutungen, die meine Neugier erst wecken könnten. Message spielt in einer militärisch organisierten Gesellschaft, in einer postapokalyptischen Welt (in Kino und Comic derzeit sehr beliebtes Motiv), aber weder das Funktionieren dieser Gesellschaft noch die Intentionen der Figuren werden auf den 80 Seiten nur andeutungsweise klar.
Niklas: Da muss ich widersprechen, denn zumindest Avarus‘ Motivation wird sehr deutlich: Er möchte seinen Bruder finden und ist dafür bereit, auch mal hintenrum an Informationen zu kommen, was auch schon viel über die Gesellschaft aussagt. Die Zusammenfassung am Anfang reicht auch erstmal für mich, vor allem, da der Band sonst auch schnell in schnarchiger Exposition untergehen könnte. So kriegen wir einen groben Eindruck von der Welt, und die Geschichte konzentriert sich auf ihr eigentliches Thema: Avarus‘ Suche nach seinem Bruder. Das Interesse an seinen Ermittlungen ist das Herz des ersten Bandes, und wie spannend man das findet, hängt vom Interesse an Avarus und vielleicht auch der Optik ab. Mir persönlich ist unser Hauptcharakter etwas zu hübsch, aber sein Ziel ist nachvollziehbar. Ein junger Draufgänger mit einem Herz für die Familie. Mehr braucht es nicht für einen ersten Band, denn wie gesagt, so richtig los geht es meiner Erfahrung nach immer erst im zweiten. Davon abgesehen sagt die Action schon viel über den Feind aus: Er taucht in Massen auf und plant wohl, die Menschheit wiederzuverwerten. Es wird vielleicht nicht viel gesagt, aber die Informationen sind da. Hat dir denn die Action gefallen?
Gerrit: Ich bin kein geeigneter Ansprechpartner für Actionsequenzen, weil ich grundsätzlich einschlafe, sobald im Kino die Verfolgungsjagden, Schusswechsel und Kampfszenen einsetzen. Die Panelgestaltung, das Tempo in den Actionszenen, die Zeichnungen im Allgemeinen lassen erkennen, dass Cristin Wendt sich am Manga orientiert; beim Protagonisten, der mit Motorrad und Megawumme eingeführt wird, fühle ich mich an Tsutomu Niheis Blame erinnert. Die Zeichnungen gefallen mir gar nicht schlecht, ebenso wie der Cliffhanger; aber insgesamt genügt das nicht, um mich von der Serie zu überzeugen.
Niklas: Ich finde das Storytelling für ein erstes, großes Projekt schon sehr solide. Das gleiche gilt auch für die Actionszenen. Aber wenn ich noch mal drüberschaue, gefallen mir vor allem die ersten vier Seiten und eine gewisse Szene ganz zum Schluss, die eine schöne Atmosphäre wie aus einem Horrorfilm erzeugen, und ich denke, dass die Serie auch in diese Richtung gehen wird. Avarus‘ Rüstung und eine Regenerations-Szene sind ebenfalls optische Leckerbissen, da sie viel über seinen Job als Scout sagen und uns erklären, wie er überhaupt in so einer kaputten Welt überleben kann. Ich muss bei dem Stil etwas an die animierten Verfilmungen von Ghost in the Shell denken. Nicht, weil ich denke, dass Wendt sich da groß inspirieren ließ, sondern weil sich in Ghost wie in Message die Technologie irgendwie noch realistisch anfühlt. Nicht zu glatt futuristisch, aber auch noch nicht so abgedreht, dass es Magie sein könnte. Das sieht man zum Beispiel an den kleinen Spinnenrobotern mit dem dosenförmigen Torso. Ich vermute, dass Wendt sich noch etwas zurückhält, weil das hier eben nur der Anfang ist. Aber ich denke, dass wir uns noch auf ein paar schön anzusehende Sachen freuen können, und dass Band 1 grafisch genauso solide ist wie in seiner Handlung. Das wäre auch mein Fazit für das gesamte Album: ein solider, guter Auftakt, der mich positiv damit überrascht hat, wie professionell das Ganze schon jetzt wirkt. Aber gehen wir doch mal einen Schritt weiter, Gerrit. Was muss Message tun, um dich in Zukunft zu begeistern? Du hast schon geschrieben, dass du eine Auseinandersetzung mit dem Thema künstliche Intelligenz erwartet hast und stattdessen Action bekamst. Was wünschst du dir also? Philosophische Diskussionen, mehr Handlungsstränge, mehr Erklärungen?
Gerrit: Die glatte Ästhetik dieser postapokalyptischen Dystopie fasziniert mich mehr, als mich das Storytelling überzeugt: Ich habe etwas orientierungslos durch diese Welt geblättert, die sich mir nicht erschließt. Weder in ihrer Geschichte, noch in ihrer gegenwärtigen Struktur: Man könnte fast (aber nur fast) denken, dass diese Welt von nicht mehr als sechs Personen bevölkert sei. Und deren Beziehungen untereinander sind so rudimentär, dass sie sich auf „gute Freunde vs. strenge Vorgesetzte vs. Staffage“ reduzieren lassen. Und es hat mich nicht überzeugt, dass die Tatsache, dass der verschollene Bruder eine Mail geschickt hat, unzweifelhaft darauf hindeuten solle, dass darin die Antwort auf alle Fragen stünde: „Vielleicht hat er überlebt! Vielleicht beantwortet diese Datei all die Fragen, wie es so weit kommen konnte.“ Genau diese Szene müsste als Schlüsselstelle gestaltet sein, weil diese Hoffnung die Suche nach dem Bruder auch zu einer Queste macht, an dessen Ende (vielleicht?) die Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit steht. Aber was genau sind denn „all die Fragen“ überhaupt? Meint er den Zwischenfall in Dock Seven oder das weltweite Klima-Tohuwabohu inklusive Kampf gegen die Maschinen? Der zweite Band müsste die Welt plausibler gestalten, den Figuren eine Geschichte (bzw. viele Geschichten) geben, die ursächliche Globalkatastrophe stärker inszenieren als auf einer Doppelseite und die Künstliche Intelligenz zu mehr machen als nur zu dem Bösewicht mit roten Leuchtdioden. – Einiges zu tun. Immerhin muss ich sagen, dass der Cliffhanger wirklich gelungen ist. An diesem Punkt werde ich neugierig, und insofern bin ich nicht ganz abgeneigt, dem zweiten Band noch eine Chance zu geben.
Niklas: Ich denke, dass das auch die Fragen sind, die wir uns stellen sollen, ehe alles aufgelöst wird. Insgesamt bin ich neugierig, wie es weitergehen wird und hoffe, dass der positive Ersteindruck bleibt und sich die Qualität immer mehr steigert.
Fazit von Niklas:
Professioneller, guter Serienstart, der hoffentlich die Versprechen hält, die er macht.
Fazit von Gerrit:
Eröffnungsband mit einigen Schwächen.
Cross Cult, 2019
Szenario & Zeichnungen: Cristin Wendt
Text: Ronja Büscher
80 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3959817103
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