Zwei Geschichten schlagen ach in meiner Brust. Mermaid Project möchte sowohl Krimi als auch postapokalyptische Milieustudie sein – zum Schaden für den gesamten Comic.
Auf dem Backcover fasst der Epsilon-Verlag die Handlung von Mermaid Project in zwei Absätzen zusammen und deutet unabsichtlich auf das Grundproblem der Erzählung hin: Zu viel Story für einen einzigen Comic. Im zweiten Absatz heißt es:
„Romane, eine junge Polizeiinspektorin in einem zugrunde gerichteten Paris, führt eine Untersuchung über das Verschwinden von Körpern durch. Eine Angelegenheit, die sie nach New York führen wird, wo der Sitz der Gesellschaft Algapower angesiedelt ist, die im Geheimen Genmanipulationen durchführt, die das Verständnisvermögen überschreiten.“
Der Comic ist also ein Krimi. Die junge Pariser Polizistin Romane Pennac wird einberufen, um in einem Mordfall zu ermitteln. Die Frau eines bekannten Fußballstars ist in der Badewanne ertrunken, ein Unfall. Oder wurde sie umgebracht – von ihrem Mann? Ein Fall, der weitere verschwundene Personen nach sich zieht und die Protagonistin nach New York führt.
Zeichner Fred Simon lenkt den Fokus immer wieder auf die junge Polizistin und stellt sie ins Zentrum der Panels. Close-ups von ihrem Gesicht lassen den Leser erahnen, dass die Protagonistin mit dem Fall – aber auch mit ihren privaten Problemen beschäftigt ist. Szenarist Léo unterstreicht diese grafische Introspektive, die viele Kriminalgeschichten verwenden: Er schildert nicht nur die Handlung aus der Sicht von Romane, sondern lässt den Leser mit jeder Caption tiefer in ihre Gedankenwelt eintauchen.
Ein psychologischer Krimi, der spannend beginnt, aber in der zweiten Hälfte zu sehr von erklärenden Dialogen dominiert wird und dem Leser die Spannung nimmt, selbst Zusammenhänge zu durchschauen. Dennoch eine stimmige lineare Erzählung.
Doch der erste Absatz der Zusammenfassung liest sich wie ein anderer Comic:
„Mitte des XXI. Jahrhunderts, die Erde hat tiefe klimatische, wirtschaftliche und politische Veränderungen erfahren. Das neue Gleichgewicht hat die Macht auf den Kopf gestellt und die Schwellenländer sind die starken Nationen geworden. Das alte Europa, Symbol der starken westlichen Welt, geriet durch das Versiegen der traditionellen Energiequellen an der Rand der Erschöpfung.“
Der Comic ist also eine Milieustudie, die den Klimawandel kritisch beäugt. Es wird von einer postapokalyptischen Welt berichtet, in der das Kräfteverhältnis zwischen den ehemals Herrschenden, den Weißen, und den Ausgebeuteten, den Schwarzen, umgedreht ist. Auslöser für die nicht näher beschriebene Katastrophe scheint die Habgier der Europäer gewesen zu sein.
Die Hintergrundgeschichte, vor der der Krimi sich abspielt, ist schwammig, fast lustlos, konstruiert. Visuelle Spuren der katastrophalen Zäsur sind ein abgebrochener Eiffelturm und eine bemooste Freiheitsstatue. Obwohl Teile der Gesellschaft vom Fahrrad aufs Pferd umgestiegen sind, scheint alles wie gewohnt zu funktionieren. Selbst Flugzeuge gibt es noch. Eine Welt, über die man als Leser gerne mehr erfahren möchte. Diese Chance bietet Szenarist Léo aber nicht.
Stattdessen versucht er, die Außenseiterrolle der weiblichen weißen Polizistin beispielhaft vorzuführen. Es gibt Selbstzweifel, Anfeindungen im Büro und die Tatsache, dass alle Gesprächspartner dunkelhäutige Männer sind. Das erzeugt aber nicht automatisch das Gefühl des Ausgegrenztseins. Denn benachteiligt zu sein durch die Situation scheint Romane Pennac, die weiße Heldin, nicht. Zielstrebig erforscht sie den Fall und lässt den Leser komplett vergessen, dass unsere Welt sich um 180° gedreht hat.
Mit aller Macht versucht Szenarist Léo zwei Geschichten in einen Comic zu pressen – dabei wird er aber nur der Krimihandlung annähernd gerecht.
Epsilon, 2015
Text: Léo und Corine Jamar
Zeichnungen: Fred Simon
Übersetzung: Johanna Stehr
48 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 12,50 Euro
ISBN: 9783866931978
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