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Lebenslinien

Lebenslinien versammelt 30 Kurzporträts von Menschen außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung: keine Stars, keine Held*innen, keine Expert*innen, keine Opfer. Ganz normale Menschen, die über Grenzen gegangen sind.

Alle Abbildungen © Avant Verlag

Gunhild wird 1950 in Hamburg geboren und emigriert als Fünfjährige gemeinsam mit ihrem Vater in die USA. Sie studiert, begeistert sich aber weniger für die Hörsäle, sondern vor allem für die Hippiebewegung, der sie auch als Mutter treu bleibt. Ihre Ehe scheitert, und die beiden Kinder bleiben nach der Scheidung bei ihrem Mann. Sie heiratet erneut und führt mit ihrem neuen Partner ein Nomadenleben auf Campingplätzen quer durch die USA. Auch der erfolgreich entfernte Hirntumor kann das Glück der beiden Freiheitsfreunde nicht trüben. Als Gunhild der Interviewpartnerin begegnet, freut sie sich: „Sie kommen aus Deutschland? Ach, ich spreche so gerne Deutsch, darf ich mich zu Ihnen setzen …?!“

In einem furiosen Stakkato durchschreitet Weyhe jede der 30 Biografien auf je 18 Panels in je ähnlicher Weise, die chronistischen Erzählungen folgen der gleichen Struktur: Eingangs werden in je einem Panel Geburt und Elternhaus vorgestellt, dann Entwicklung mit Krise, schlussendlich springt die Erzählung in die Gegenwart und resümmiert meist das Verhältnis zur Heimat.

In der biografischen Verknappung bleiben viele Leerstellen offen: Woran zerbrach Gudruns Ehe? Warum wollten die Kinder nicht bei der Mutter bleiben? Die kurzen Erzählungen von je drei Seiten haben nicht den Anspruch, die Lebensläufe bis in den letzten Winkel auszuleuchten: Die Personen bleiben uns ein ganzes Stück fremd, und gerade darin ist der Realismus der Sammlung begründet. Keine Idealisierungen, keine fadenscheinigen Motivationen, sondern Schlaglichter wie Illustrationen eines tabellarischen Curriculum Vitae, der nur punktuell ins Persönliche springt.

Die 30 Kurzbiografien sind von April 2017 bis Mai 2018 im Vier-Wochen-Rhythmus in den Sonntagsausgaben des Tagesspiegels erschienen. Für die Buchausgabe wurden die Panels ummontiert und um je zwei Panels ergänzt. Drei Geschichten sind exklusiv für die Buchausgabe verfasst worden. Der Charme der Sammlung wird erst auf den zweiten Blick offenbar: Die heterogenen Geschichten eignen sich zunächst wenig zur kontinuierlichen Lektüre, weil die kurzen Porträts eine schnelle Durchsicht begünstigen, die fast an das Durchblättern von Bewerbungen erinnert. Nur vermeiden die gleichermaßen distanzierten wie bewegenden Erzählungen Bewertungen ganz konsequent. Man muss jeder Geschichte viel Aufmerksamkeit entgegenbringen, auch wenn es schwerfällt, weil Erzählzeit (2 Minuten) und erzählte Zeit (ca. 30-60 Jahre) so weit auseinanderklaffen.

Birgit Weyhe greift auch die Lebenslinie von Martinho auf, einem mosambikischen Arbeiter, der als 18-Jähriger im Rahmen eines Arbeitsaustauschprogramms in die DDR emigriert – wir begegnen einem Schicksal, das wir schon aus einem anderen Werk Weyhes kennen: Madgermanes wurde 2016 mit dem Max-und-Moritz-Preis für den Comic prämiert.

Diese Lebenslinien finden diverse Antworten auf die Frage, was Heimat bedeuten kann: Für Hilde sind „Menschen Heimat, nicht Orte“. Zahi weiß auf die Frage, was Heimat für ihn sei, gar keine Antwort. Und mit Günters Resümee schließt die Sammlung: „Weder möchte er seinen Geburtsort nennen, noch seinen Wohnort. Es sind für ihn zufällige Orte, ohne tiefere Bedeutung. Den Begriff Heimat lehnt er ab – er bringt nur Unheil.“ Die Stärke der Kompilation, und dies wird erst in der Buchausgabe sichtbar, liegt in der unkommentierten Gegenüberstellung nicht miteinander zu vereinbarender Ansichten, denn viele (aber nicht alle) der Porträtierten sehnen sich nach der Heimat ihrer Kindheit zurück. Weyhe lässt daraus ein buntes Panorama entstehen, das weder im Visuellen noch im Erzählerischen Spektakel inszenieren muss, um schließlich doch spektakulär gut zu sein.

Lebensläufe für die Hosentasche

9von10Lebenslinien
Avant, 2020
Text und Zeichnungen: Birgit Weyhe
120 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-96445-031-9
Leseprobe

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