Afrikanische Comics haben in Deutschland keinen großen Stellenwert. Die wenigsten Titel, wie etwa Aya von der ivorischen Zeichnerin Marguerite Abouet und dem französischen Autor Clement Oubrerie, schaffen es auf unseren Markt, und auch in der Forschung werden diese erst ganz allmählich wahrgenommen. Mit Lagos – Leben in Suburbia lernen wir nicht nur einen afrikanischen Comic kennen, sondern auch eine der spannendsten Städte der Welt.
Nigeria ist mit mehr als 200 Millionen Einwohner*innen das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Zur Verständigung dient Englisch als Amtssprache, weil das Land bis 1960 eine britische Kolonie war. Darüber hinaus sind in der Bevölkerung weitere 500 Sprachen verbreitet, darunter auch das nigerianische Pidgin-Englisch, eine Kreolsprache mit Elementen des Englischen und verschiedener nigerianischer Sprachen. Die Personen in „Lagos – Leben in Suburbia“ sprechen ein Pidgin-Englisch mit Einflüssen der Yoruba – dies ist die im Südosten vorherrschende, überwiegend christliche Bevölkerung, während im Norden des Landes der Islam weit verbreitet ist. In den letzten Jahren sind die Gewaltaktionen der Terrorgruppe Boko Haram immer wieder in den Medien präsent gewesen, allerdings ereignet sich der schleichende und zunehmende Terror der Fundamentalisten insgesamt eher unterhalb der europäischen Wahrnehmungsschwelle: Etwa 35.000 Todesopfer gehen auf die Aktivitäten der Gruppe zurück.
In der Hafenstadt Lagos, einer der bevölkerungsreichsten und am stärksten wachsenden Städte der Welt, ist das Christentum vorherrschend. Für die vorliegende Geschichte ist das entscheidend: Es geht in Lagos um die Familie Akpoborie, die dominiert wird von dem strengreligiösen Familienoberhaupt Arthur, dessen Name nur ganz beiläufig erwähnt wird, so dass wir ihn kaum als Mensch wahrnehmen. Für die meisten Menschen ist er: Reverend, Herr Pastor oder Daddy. In Wirklichkeit ist er ein bigottes Dreckschwein.
Seine drei Kinder sind selbstbewusst, freundlich und umsichtig. Leider ist sein Sohn Godstime aber auch homosexuell, seine Tochter Mary ein Freigeist ohne Sinn für Männer und seine Tochter Keturah sexuell aktiver, als der Vater sich das wünscht. Aber mit der priesterlichen Moral ist es nicht weit her, lernen wir, als er das junge Hausmädchen vergewaltigt und den Freund seines Sohnes mit seinem Eifer in den Selbstmord treibt. Der christliche Tugendterror ist das Werk eines Schwindlers, der seine berufliche Existenz auf Betrug, Unterdrückung und Ausbeutung gegründet hat.
Lagos ist der erste Comic des nigerianischen Autors Elnathan John, der zuvor diverse Kurzgeschichten und zwei Romane verfasst hatte. 2019 erschien in den USA On Ajayi Crowther Street, jetzt übersetzt von Lilian Pithan unter dem Titel Lagos – Leben in Suburbia. Suburbia ist kein Stadtteil der Megacity, sondern verortet die Ereignisse in einem der zahlreichen Vororte (engl. suburbs) – die Großstadt, deren Bevölkerungsschätzung von 14 Millionen wahrscheinlich sehr zurückhaltend ist, wird kaum sichtbar.
Besonders markant ist die Übersetzung des Sprachengewirrs ins Deutsche. Die Passagen, die im Original nigerianisch sind, werden ins Deutsche übertragen, wohingegen die Pidgin-Englisch-Passagen bewahrt bleiben. Das ist durchaus nicht ganz einfach: „Wetin I go do? Abeg, ich muss los.“ Das bedeutet etwa: „Was soll ich tun? Bitte, ich muss los.“ Ein wenig Übersetzungshilfe findet sich auf der Webseite der britischen Botschaft, aber dennoch bleibt die Lektüre eine Herausforderung. Die Authentizität des Sprachengewirrs ist kaum ins Deutsche zu übertragen, und der Versuch hat seinen Preis. An dem oftmals an die Sätze angehängten „abi“, das etwa unserem „nicht wahr“ entspricht, erkennt man übrigens das Yoruba-Pidgin.
Die Zeichnungen von Álàbá Ónájin bieten ein sehr helles Vorstadt- und Mittelstandsnigeria fernab von Afrikaklischees, wie sie etwa Matthias Schultheiss in seinem Lagos-Zyklos, der derzeit bei Splitter neu aufgelegt worden ist, pflegt. Besonders eindrucksvoll wiederum sind die Zeichnungen nicht, und manchmal wirkt das Erzähltempo etwas beliebig, so dass die Schlüsselszene um Godstimes Verzweiflung geradezu verstolpert erscheint, während andere Pointen wesentlich besser gesetzt sind.
Die sehr auf die Familie fokussierte Soap Opera benötigt ein umfangreiches Ensemble, fast schon im Thomas-Mann- oder Dostojewski-Stil, das dankenswerterweise auf einer Doppelseite mit Porträtabbildungen vorgestellt wird. Ob es ganz so viele Figuren wirklich braucht, um diese Geschichte eines religiösen Eiferers und einer ganz normalen Familie, wie sie auch in Mainz, München oder Merseburg leben könnte, zu erzählen, bleibt dahingestellt.
Zudem plätschert die Geschichte über einige Dutzend Seiten erst einmal vor sich hin, braucht sehr lang für die Einführung der Figuren und die Konturierung der ersten Konflikte: 50 Seiten dauert es, bis wir alle zentralen Akteure kennen gelernt haben und sich das erste Problem allmählich zu entwickeln scheint. Das alles muss man in Kauf nehmen, um ein ungewohntes Bild von Nigeria und Lagos zu Gesicht zu bekommen.
Nigerianisches Sittengemälde
avant-Verlag, 2021
Text und Zeichnungen: Elnathan John, Alaba Onajin
Übersetzung: Lilian Pithan
224 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-96445-060-9
Leseprobe