Leopold Maurer und Regina Hofer haben bereits an mehreren Comics gemeinsam gearbeitet: In Insekten (2019) und F22.0 (2023) geht es um körperliche Gewalt und psychisches Leiden.
Insekten
Kinder stellen irgendwann fest, dass ihre Eltern nicht die Helden sind, als die sie in den ersten Kindheitsjahren erlebt haben. Dem verdanken wir unzählige Erzählungen von Eltern-Kind-Konflikten in Comic, Literatur und Film. In Regina Hofers und Leopold Maurers Insekten ist es nun aber der verstorbene Großvater Maurers, der vor dem erzählerischen Gericht steht. „Mein Grossvater war an Kriegsverbrechen und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt.“
Regina Hofer und Leopold Maurer haben in Insekten die Gespräche mit Maurers Großvater über seine Vergangenheit im Dritten Reich, insbesondere während als Soldat im Zweiten Weltkrieg grafisch festgehalten. Wir erfahren von belanglosen Alltäglichkeiten und wohnen schonungslosen Geständnissen bei. Mord. Folter. Von dem Aufsammeln von Leichenteilen. Von einer Massentötung auch von Kindern und schwangeren Frauen. Und seine Großmutter ergänzt: „Wir haben ja nichts gewusst von den Konzentrationslagern.“
Auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich bei dem Großvater keine erkennbare Reue eingestellt, er ist offenbar ein Nazi geblieben bis zum Schluss. Für ein tieferes Verständnis dieses Lebenswegs reichen die Schilderungen der Gespräche dann aber doch nicht aus. Der Großvater, dessen Gesicht wir niemals zu sehen bekommen, steht schließlich auch gar nicht wirklich im Fokus der Erzählung, sondern eher die Taten, an denen er beteiligt war. Die Erzählung schreitet nicht zwingend chronologisch voran, sondern erzählt in Episoden, immer wieder unterbrochen von kurzen Sequenzen, die uns die Kontinuität des menschenverachtenden Denkens auch über das Ende des „Dritten Reichs“ hinaus klarmachen.
Interessant wird es, wenn die Zeitebenen einander überlagern und wir Szenen aus der Nachkriegsvergangenheit sehen (erkennbar an einem anderen Lettering), wo der Erzähler sich daran erinnert, andere Menschengruppen ausgelacht zu haben und diese Herabsetzung in der Insekten-Bildsprache gestaltet. ‚Irgendwo da fängt es an‘, soll uns das wohl sagen.
Die Titelmetapher weckt sofort Erinnerungen an Art Spiegelman und seinen Holocaustcomic Maus. Darin nimmt er die nationalsozialistische Rede vom „jüdischen Parasiten“ zum Anlass, die Juden tatsächlich als Mäuse, die Nazis hingegen als Katzen darzustellen. Leopold Maurer dreht die Metapher aber um: Die Nazischergen, Mitläufer und Kollaboratuere sind die Insekten, die in der Masse untertauchen. Es wird aber keine Fabel daraus, keine psychologische Studie über das Anderssein (wie in Franz Kafkas Verwandlung), sondern er verwandelt die Personen nur ab und zu in Insekten. Sein Großvater bleibt ein Mensch, aber manchmal verliert er alles Menschliche. „Mein Grossvater war einer von ihnen.“ Mit diesem ernüchternden Fazit endet der Comic.
Auf Dauer ist die vornehmlich typografische Gestaltung der Panels, die oft ohne Figuren auskommen, etwas eintönig, auch wenn Maurer sich sehr um Abwechslung bemüht. Der Großvater bleibt uns fremd, was letztlich schade ist, weil die vielen Gesprächsfragmente doch kein komplettes Bild ergeben und nicht ganz deutlich wird, was aus den Gesprächen stammt, was aus anderen Dokumenten, die ergänzend herangezogen wurden. Aber vielleicht ist ein Psychogramm historischer Grausamkeiten auch zuviel verlangt von einem Enkel. Vieles an diesem Comic ist dennoch beeindruckend.
F22.0
Ein Titel könnte kaum sperriger sein. F22.0 ist der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendete ICD-Code für eine wahnhafte Störung (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problem). Wie schon Insekten hat auch dieser Comic eine biografische Dimension, denn Regina Hofer leidet selbst unter Wahnvorstellungen. Dieser Comic setzt sich damit auseinander.
Wir werden sofort, weiß auf schwarz, in ein Leben gezogen voller Esstörungen, Depressionen und sexuellem Missbrauch. Die Protagonistin erinnert sich im Alter von 36 Jahren plötzlich an den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater und erzählt ihrem Partner davon. Durch eine Radiosendung, in der sie jemand anderen davon berichten hört, kommt das alles wieder hoch. Sie beginnt eine Therapie, aber allmählich kommen Zweifel auf, ob ihre Vorstellungen wirklich im Einklang mit der Wirklichkeit stehen. Betrügt ihr Partner sie? Und plötzlich wird alles groß und größer: „Die Mafia! Die Nazis! Die Kirche! Das ist eine ganz große Sache!“ Schließlich steigert sie sich in die Phantasie hinein, eine FBI-Information zu sein. Uns ist da längst klar: Hier stimmt was nicht.
In dem Comic wechseln sich zwei Arten von Erzählungen ab: Grob in Schwarz auf Weiß gezeichnete Passagen, in denen ein Paar miteinader interagiert und langsam dahinterkommt, dass ihre Wahrnehmung nicht ganz wirklichkeitskonform ist. Und wiederum Passagen, Weiß auf Schwarz, in denen sprunghaft und assoziativ die Gedanken und Probleme der Protagonistin in wilden Bildern dargestellt werden. In letzteren Sequenzen wird nicht vom Wahnsinn erzählt, sondern die Erzählweise versucht, den Effekt zu reproduzieren. Wir sehen Sequenzen ohne Kohärenz, mit verstörenden Abbildungen, die man kaum entziffern kann. Es gibt keine Panelrahmen, von denen die wuchernden Bilder im Zaum gehalten würden und so wird die Orientierungslosigkeit und Überforderung der Frau erlebbar.
Diese Passagen sind die stärkeren, wenngleich Dialoge wie „Werden wir uns wiedersehen? – Wenn Küken schlüpft aus Ei?“ auch eine echte Herausforderung sind, von den kryptischen Bilderfolgen ganz zu schweigen. Die Lektüre hinterlässt aber auch einen starken Eindruck, weil die verstörenden Passagen einen erahnen lassen, wie undurchdringlich die Wirklicheit ist, wenn man sie in einem Wahn betrachtet.
Der Opa bleibt letztlich ein Fremder
luftschacht Verlag, 2019
Text und Zeichnungen: Regina Hofer, Leopold Maurer
240 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 23,00 Euro
ISBN: 978-3-903081-34-5
Leseprobe
Wahnhafte Erzählung
Luftschacht, 2023
Text und Zeichnungen: Regina Hofer, Leopold Maurer
304 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 28 Euro
ISBN: 978-3-903422-27-8
Leseprobe
Wenn in diesem Zusammenhang der Begriff „Insekten“ fällt, muss ich immer an „LTI“ von Victor Klemperer denken. Pflichtlektüre, wenn man sich mit dieser „Ideologie“ ernsthaft auseinandersetzen will!
Stimmt – das ist ein sehr guter Hinweis!