Mit dem fünfteiligen Storyarc Tempest Fugit kehrte eine Legende zu jenem Titel zurück, den sie großgemacht hat: Autor Peter David und The Incredible Hulk werden nicht umsonst häufig in einem Atemzug genannt, hat David in den 80ern und 90ern für den grünen Riesen doch Großes vollbracht und das Storytelling in Superheldencomics nachhaltig mitgeprägt. Tempest Fugit erschien 2005 als eigenständige Geschichte innerhalb der Hauptserie (Incredible Hulk #77–81). Anlass für Panini, den Comic in seiner kompakten „Marvel-Must-Have“-Reihe für Hulk-Neulinge aufzubereiten. Worauf wartet ihr noch, Puny Humans!
Ein Blick in die Tiefen des Ozeans. Wir folgen einem Hai, der langsam in der Ferne verschwindet. Dann schwimmt der Hai wieder auf uns zu, er blutet aus seinem Maul und als sich der Kopf zur Seite neigt, merken wir, dass er in der Mitte geteilt wurde. Der Grund dafür: eine Konfrontation mit dem „Unglaublichen Hulk“, der nun auf dem Meeresboden gemächlich auf uns zu stapft, in der Hand die Schwanzflosse des Hais. Diese wortlose Einführung präsentiert uns den Hulk als eine unaufhaltsame Naturgewalt, der selbst der Herrscher der Meere auf seinem Terrain keinen Einhalt gebieten kann. Sobald sich die Sprache anhand von Textfeldern einmischt, tritt die Kehrseite des grünen Behemoths zutage. Ein schmächtiger Highschool-Nerd namens Bruce Banner wird von seiner Lehrerin ermahnt, keine Selbstgespräche zu führen, während sich seine Mitschüler über ihn lustig machen. Die Panels sind von einem zarten, blauen Schleier überzogen (die Farben stammen vom bekannten „Studio F“, das für Marvel einmal mehr Wunder vollbringt!) und geben sich dadurch als Erinnerungssequenzen zu erkennen. Der Kontrast zwischen dem Grün des grünen Monsters auf dem Meeresgrund und dem Blau des Klassenzimmers, – ist es ein Zufall, dass diese Farbkombination sprachbildlich ein Prügelopfer charakterisiert? Dieser Kontrast macht den Hulk von Beginn an als gepeinigte Kreatur deutlich. Die Sequenz kulminiert in einem ganzseitigen Panel, in dem Bruce beteuert, es gäbe keinen Gesprächspartner. Zugleich sehen wir den mächtigen Hulk hinter seinem Alter Ego kauern, ganz offensichtlich kann nur Bruce ihn sehen. Zeichner Lee Weeks gibt dem Hulk einen Gesichtsausdruck mürrischer Gleichgültigkeit. So als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Bruce ausrastet und seiner inneren, monströsen Seite freien Lauf lässt. Inker Tom Palmer läuft manchmal Gefahr, den individuellen Stil von Zeichnern durch zu kräftige Tuschestriche abzuschwächen, – man denke nur an seine Arbeit für Neal Adams‘ X-Men – in diesem Fall ergänzt Palmer Weeks Artwork aber so perfekt, dass selbst kleinste Nuancen in der Mimik zum Ausdruck kommen. So spiegelt sich das subtile Stirnrunzeln des Hulk haargenau in jenem seines menschlichen Counterparts.

Für Peter David litt Bruce Banner bereits vor den Gammastrahlen an multipler Persönlichkeitsstörung. (Zeichnungen: Lee Weeks, © Marvel)
Wer sich mit der Geschichte des Hulk beschäftigt hat, weiß, dass die Schizophrenie Banners keineswegs eine ausgemachte Sache war. So wie Stan Lee und Jack Kirby die Figur ursprünglich entwarfen, führte ein Unfall mit Gammastrahlen zur Verwandlung in den Hulk. Als Peter David die Serie 1987 übernahm, wurde aber eine leicht abgeänderte Version erzählt. Banners Multiple Persönlichkeitsstörung machte ihn bereits vor dem Laborunfall anfällig dafür, sich aufgrund aufgestauter Wut in ein Ungeheuer zu verwandeln – die Gammastrahlen sorgten dann nur dafür, dass sich dieser Ärger real-physisch manifestiert. David bestreitet bis heute, dass es sich um eine revolutionäre Neuerfindung der Figur handelt, sondern dass diese Version des Hulk von Anfang an so angelegt war. Er greift dabei besonders auf die Arbeit seines Vorgängers Bill Mantlo zurück, der mit einer Geschichte Bruces Misshandlungen durch seinen Vater ins Zentrum stellte (Incredible Hulk #312, 1985). Da Multiple Persönlichkeitsstörungen häufig das Resultat einer traumatischen Kindheit sind, sieht David seinen Zugang zu dieser Figur nur als folgerichtig. Zugleich führte David mit dem „Grey Hulk“ eine intelligentere Persona des Hulk ein, die reden, denken und sich zu artikulieren vermag. Dies bedeutete nicht nur eine Verbeugung vor Lee und Kirby, die den Hulk bei seinen ersten Auftritten in den 60ern noch grau (und nicht grün) konzipierten, sie bot dem späteren Starzeichner Todd McFarlane auch die Möglichkeit, anhand des wiederaktivierten grauen Hulk in den 80ern mit einem noch größeren Paukenschlag die Comicbühne zu betreten.

Links das Cover zu Incredible Hulk Vol. 1 #181 (Zeichnungen: Herb Trimpe, John Romita und Gaspar Saladino), rechts dessen Zitat im Cover von Incredible Hulk Vol.2 #80 (Zeichnungen: Lee Weeks) © Marvel
In Tempest Fugit erweist Peter David dem grauen Hulk erneut seine Referenz. Nachdem der grüne Hulk von seinem Spaziergang am Meeresboden auf eine einsame Insel gelangt, trifft er auf ein junges Paar in Nöten, das sich gegen alle möglichen Ungeheuer verteidigen muss. Der Hulk steht ihnen zur Seite, ringt aber bald mit einer grauen Version seiner selbst. Offenbar triggert ein geheimes Militärexperiment – durchgeführt vom Erzfeind General Thunderbolt Ross –innerste Ängste und lässt sie zu realen Bedrohungen werden. Gelegenheit für David, den Hulk ein Who-is-who ikonisch gewordener Marvel-Kreationen (vom Drachen Fin Fang Foom, bis hin zu Wolverines erstem Auftritt in Incredible Hulk #181) durchlaufen zu lassen. Neueinsteiger müssen all diese Anspielungen nicht verstehen, um mit dem monströsen Protagonisten mitzufühlen, ganz im Gegenteil: Als Leserin oder Leser lohnt es sich sogar, genauso verwirrt zu sein wie der Hulk selbst. (Wer sich für die Hintergründe interessiert, bekommt im für die Marvel-Must-Have-Reihe gewohnt vorzüglichen Kommentarteil alle nötigen Informationen nachgeliefert.)
Das Tolle an Davids Version des Hulk: Bei allen Traumata, die Banner durchmachen musste (die Rückblenden in die Highschoolzeit bilden einen beständigen Fluchtpunkt der Geschichte), ist es der Hulk, der ihm letztlich das psychische Durchhaltevermögen gibt, seinen manipulativen Feinden entgegenzutreten. So wie sein Autor trotzt er allen Stürmen, die gegenwärtig auf ihn einprasseln. Seit den 80ern ist viel Zeit vergangen, das Talent, einer Figur und seinem Charakter die Treue zu halten, bleibt. Wer Peter David kennt und schätzt, wird hier viel wiedererkennen, allzuviel Neues darf man sich aber nicht erwarten.
Als Bonus druckt Panini den ebenfalls von David geschriebenen One-Shot „Dear Tricia…“ (Incredible Hulk #82) in diesem Band ab. Darin hilft Bruce Banner einem Geist namens Tricia, ihren Mörder zu finden und wird von Jae Lee mit wundervoller, Tragik umflorten Atmosphäre eingefangen.
Zeit vergeht – Stürme auch.

Panini, 2024
Text: Peter David, Zeichnungen: Lee Weeks, Jae Lee
Übersetzung: Carolin Hidalgo
160 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,00 Euro
ISBN: 978-3-7416-3898-5
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