Gläserne Gedanken von Matthias Gnehm wäre ein Comic für Querleser, wenn querdenken nicht so ein negativ belegter Begriff wäre. Nicht nur das Format ist eigenwillig, auch der Plot hält Herausforderungen bereit.
Meistens verstellt es den ungetrübten Blick auf einen Comic, wenn man eine Rezension liest, bevor man den Comic selbst gelesen hat. Diesmal war ich zufällig über einen Verriss gestolpert, der meine nachfolgende Lektüre natürlich einigermaßen stark lenkte. Ein Rezensent schreibt im Alfonz, Gläserne Gedanken sei „leider kein gelungener Comic“, diese „harte Nuss“ sei vielmehr allzu „aufgebläht“. Natürlich hat er Recht, weil dies sein Lektüreeindruck ist, und den kann niemand bestreiten. Ich möchte auch nicht darauf bestehen, es ‚besser‘ zu wissen, aber ich sehe in dem Comic andere Qualitäten.
Die Story führt uns in das Leben der jungen Eltern Markus und Annina ein, deren Schreibaby Andreas ihnen sehr zu schaffen macht. Markus ist ein Schriftsteller, der ironischerweise niemals tatsächlich schreibt, sondern seine Romane einem Smartphone in den Speicher diktiert und in Text umwandeln lässt. Nachdem sein Vater eine künstlerische Karriere als Schauspieler oder Maler rasch verwarf und stattdessen einem bürgerlichen Beruf als Mitarbeiter und später Direktor eines Chemiekonzerns nachging, strebt Markus nach Ruhm, auch wenn er dies nicht laut eingestehen möchte. Da wir seiner Perspektive folgen, wissen wir Leser*innen oft mehr als seine Freundin.
Conny ist eine Freundin des Paares, die bislang wenig erfolgreich bei ihrer Suche nach einem verlässlichen Partner ist. Als sie den beiden ihren neuen Freund Gerhard vorstellt, ist Markus wenig begeistert von dem selbstbewussten Programmierer. Nicht zuletzt deshalb, weil ein klein wenig Eifersucht im Spiel ist. Gerhard arbeitet an einer Software, die es ermöglicht, die eigenen Gedanken in Text umzuwandeln, ohne dass man sie dafür aussprechen müsste. Wer die Software kontrolliert, ist vom Gedankenlesen nicht weit entfernt.
Als Markus im Internet recherchiert, was andere über ihn schreiben, stößt er auf ein paar Aussagen, die er niemals laut aussprechen würde, die er aber wortwörtlich so gedacht hat. Ist Gerhard etwa kein Aufschneider, sondern ist er längst in der Lage, seine Gedanken zu lesen? Fließen Nanoroboter durch seinen Blutkreislauf, um Impulse zu registrieren und an eine dubiose Techfirma weiterzugeben?
Wie so oft hilft ein Blick in die Vergangenheit, um Klarheit zu finden. Markus zieht Unterlagen seines Vaters zu Rate und findet Gedanken, die dieser vielleicht niemals ausgesprochen hat, die er aber gedacht und aufgeschrieben hat.
Was als Geschichte zweier Eltern beginnt, dann eine Vater-Sohn-Story zu werden scheint, schließlich in eine Science-Fiction-Erzählung abdriftet und Elemente von Verschwörungstheorien aufnimmt, landet am Ende wieder da, wo es anfing. Gläserne Gedanken ist ein wilder Ritt und mag daher tatsächlich wie eine „harte Nuss“ erscheinen. Der Comic wächst wie ein Ballon, der immer weiter aufgepustet wird, und am Ende platzt er mit einem Knall. Dem kann man als Leser*in mit viel Freude zuschauen, denn man merkt, dass man in der eigenen Phantasie kräftig mitgepustet hat.
In einem Interview für Deutschlandfunk spricht Gnehm (Salzhunger) vor allem über technologische Innovationen, die er als besorgniserregend bezeichnet, aber der Comic handelt eigentlich doch nur am Rande davon.
Was auf Anhieb irritiert, ist die Bindung und daraus resultierend die Lesrichtung. Durch die Kalenderbindung blättert man die Seiten nicht von rechts nach links, sondern von unten nach oben. Das Smartphone-Format wird durch die Ziegelsteinoptik zwar ein wenig relativiert, aber angesichts der vielen Smartphones, die in Gläserne Gedanken eine Rolle spielen, passt die Assoziation tatsächlich, zumal Gnehm im Nachwort auch hervorhebt, dass das Format eine bewusste Entscheidung sei, um den Eindruck des Scrollens zu imitieren.
Viel mehr aber noch zeitigt das strikte Nacheinander der Panels den Effekt, das Nacheinander der Sinneseindrücke von Markus zu imitieren. Wie bei einem Stream of Consciousness folgen wir dessen Wahrnehmung, die Belangloses und Bedeutendes gleichermaßen aufnimmt.
Die Kohlezeichnungen erzeugen eine etwas unscharfe Welt, verregnet und vernebelt, und ob es den Wetterdaten der Schweizer Stadt Zürich entspricht oder ein metonymisches Abbild des Trübsals des Protagonisten sind, bleibt eine offene Frage.
Der Titel wiederum ist nun doch unglücklich, weil die Metapher völlig schief ist: Menschen mögen gläsern werden, wenn man sie ‚durchleuchten‘ und ihre Gedanken lesen kann, aber Gedanken werden nicht gläsern, wenn man sie liest. Ganz im Gegenteil. Die Alliteration klingt schön und rätselhaft, aber besonders stimmig ist sie nicht.
Matthias Gnehm ist ein wunderbarer Comic gelungen, in dem es vor allem darum geht, dass derjenige jedes gegenseitige Verständnis verhindert, der seine Gedanken gegenüber Menschen, die einem wichtig sind, nicht offenlegt. Dass er daraus keine platte Moralpredigt macht, sondern Markus von Fall zu Fall abwägen und lernen lässt, macht den Comic zu einer lesenswerten Erfahrung.
Sag, was du denkst. Manchmal.
Edition Moderne, 2022
Text und Zeichnungen: Matthias Gnehm
640 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 19,00 Euro
ISBN: 978-3-03731-228-5
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