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Family Tree 1

Schon wieder Bäume. Diesmal aber ohne Peter-Wohlleben-Charme wie in Zeps The End und ohne den Episoden-Thrill von Warren Ellis‘ Trees. Die Horror-Serie Family Tree von Jeff Lemire und Phil Hester handelt – natürlich – von einer Familie.

Alle Bilder © Splitter Verlag

„Der Weltuntergang begann am 14. März 1997.“ Zunächst einmal Entwarnung: Die Tagesschau des entsprechenden Freitags zeigt eine völlig entspannte Dagmar Berghoff, die zwar erschütternde Bilder vom albanischen „Lotterie-Aufstand“ zeigt, ansonsten aber nichts von einem globalen Kollaps zu berichten weiß. So weit, so gut. Aber was ist hier geschehen?

Ein Endzeit-Ereignis, das bis zum Abschluss des vorliegenden ersten Bandes noch nicht aufgeklärt ist, lässt Menschen Mitte der Neunziger Jahre allmählich ‚verbaumen‘: Ihnen wächst Rinde über der Haut, und überall schlagen lästige Äste aus. Sie wecken das Interesse der dubiosen und weitverzweigten „Arboristen“, einer Geheimorganisation, die nichts Gutes im Schilde führt und die Verbaumten erbarmungslos jagt. Da die Krankheit oder die Mutation zunächst den Familienvater Darcy dahinrafft und ein Jahr später auch dessen Tochter Meg befällt, erweckt das Problem den Anschein, ein Familienthema zu sein.

Eine klassische Jeff-Lemire-Geschichte also, denn der kanadische Vielschreiber verknüpft gern klassische Genre-Erzählungen mit ergreifenden Familiendramen: Science-Fiction bei Descender, Fantasy bei Sweet Tooth, Superhelden bei Black Hammer. Und auch als Horror-Autor ist Lemire mit Gideon Falls an der Seite von Andrea Sorrentino schon produktiv gewesen. Family Tree (dt. „Stammbaum“) benennt schon im Titel nicht nur die mysteriöse Verbaumung, sondern auch die Familiengeschichte. Wir folgen der alleinerziehenden Loretta, ihren beiden Kindern Josh und Meg sowie deren Großvater Judd auf der Suche nach einer Lösung und auf der Flucht vor dunklen Mächten.

Was die Serie auszeichnet, sind vor allem die wundervollen, kantigen Zeichnungen von Phil Hester: Ist das noch Haut? Ist das schon Rinde? Als die junge Meg ihre pflanzliche Deformation der verdutzten Familie präsentiert, wirft ihr deformierter Körper, fast übersehbar, einen auffälligen Schatten auf den ansonsten weißen Hintergrund. Und dieser Schatten hat nolens volens die Form eines Blattes. Vielleicht ist es sogar ein Ahornblatt, als Reminiszenz an Lemires kanadische Herkunft? Mal mehr mal weniger subtil hält Zeichner Hester die sich aufdrängende Pflanzenwelt immer wieder im Bewusstsein der Leser*innen – oder auch in deren Unterbewusstsein.

Gelegentlich auch mit viel Humor: Vielleicht würde man über dem Bett, in dem Darcy liegt und von seinem Vater gepflegt wird, ein Bild erwarten, das Menschen zeigt – nichts aber ist konsequenter als das Stillleben, das Hester dort platziert.

Der Horror besteht nicht in der blutigen Inszenierung von Splattermomenten, sondern in der Ungewissheit des Gezeigten und in der Hybridität der handelnden Lebensformen. Wie beängstigend ist die Vorstellung eines Lebewesens, von dem man kaum weiß, ob man es als Mensch oder als Baum ansprechen soll? Als Kind oder als Erwachsenen? Als Mann oder als Frau? Woher sonst rührt das Grauen, das die Zentauren hervorgerufen haben, heute noch aktuell im Logo einer deutschen Drogeriekette, das den Körper eines Ross-Mannes führt. Was sich nicht mit einer biologischen Nomenklatur beschreiben lässt, hinterlässt namenloses Grauen und Sprachlosigkeit – fragt mal Lovecraft. Aber auch ein Blick in Jeff Lemires Serie Sweet Tooth bzw. deren Netflix-Verfilmung ist aufschlussreich.

Setzling ist der erste von drei Bänden der Serie Family Tree, die bei Image Comics in den USA in zwölf Heften zwischen November 2019 und Juni 2021 erschienen und inzwischen abgeschlossen ist. Dieser Band umfasst die ersten vier Ausgaben. Im September wird der zweite Band erscheinen – und wenn dieser so viel Freude macht wie dieser Auftaktband, ist das eine sinnvolle Überbrückung, bis Lemires Hammerverse endlich fortgeführt wird.

Ach so: Am 14. März 1997 starb Jurek Becker, Autor von Jakob, der Lügner (1969) und der TV-Serie Liebling Kreuzberg (1986-98) – das ist nicht der Beginn des Weltuntergangs, aber es ist auch mehr als eine traurige Fußnote.

Sanfter Hybrid-Horror auch für zarte Pflänzchen

8von10Family Tree 1 – Setzling
Splitter Verlag, 2021
Text: Jeff Lemire
Zeichnungen: Phil Hester, Eric Gapstur, Ryan Cody
Übersetzung: Katrin Aust
96 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN: 978-3-96792-040-6
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