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Éloi

„Was für ein Abenteuer! Ein Kanake in Paris …“ – mit diesem verlockenden Versprechen stimmt der ambitionierte Naturforscher Pierre Delaunay den jungen Einheimischen Éloi darauf ein, als erster seiner Landsleute von Neukaledonien aus nach Frankreich aufzubrechen.

Eine durchaus zweifelhafte Ehre für Éloi, der sich als Auserwählter – Eligius, lat. „der (von Gott) Auserwählte“ – bald als Teil eines Sozialexperiments an Bord der französischen Fregatte La Renommée wiederfindet. Darin offenbaren sich nicht zuletzt tiefe Einblicke in das rassistische Menschenbild im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts, welches im streng hierarchisch gegliederten Machtgefüge an Bord zutage tritt. Als Ureinwohner Neukaledoniens gilt Éloi unter der Besatzung als ein unzivilisierter Wilder, der sich gefälligst den herrschenden Sitten und Gebräuchen anzupassen hat. Der verwendete Begriff Kanake lässt sich dabei zwar aus dem Polynesischen „Kanaka“ – Mensch – ableiten und ist eine Bezeichnung für die Bewohner der südwestpazifischen Inseln, insbesondere Neukaledoniens, in seinem Gebrauch klingen hier jedoch deutlich diskriminierende und abwertende Konnotationen aus dem Zusammenhang der europäischen Kolonialgeschichte mit an.

Alle Abbildungen: © Florent Grouazel/Avant-Verlag

Alle Abbildungen: © Florent Grouazel/Avant-Verlag

Wer in dem bildgewaltigen Comic Éloi, der vor der exotischen Kulisse der südwestpazifischen Inselwelt angesiedelt ist und überwiegend an Bord eines Segelschiffs spielt, eine klassische Abenteuergeschichte erwartet, könnte ein wenig enttäuscht werden. Denn ebenso wie es sich in so vielen Erzählungen von tropischen Inselparadiesen um eine scheinbare Idylle handelt, geht es hier nur vordergründig um eine Abenteuergeschichte. Vielmehr liefern Younn Locard und Florent Grouazel in ihrem kammerspielartigen Debut ein facettenreiches Sittenbild und zeigen dabei den aussichtslosen Kampf des Protagonisten gegen die verschiedenen Kräfte auf, die im Mannschaftsgefüge von allen Seiten auf ihn einwirken.

Als Abenteurer aufgebrochen, findet sich Éloi zusehends in der Rolle des Underdogs wieder, der Demütigung und Leid zwar nicht ohne sich dagegen zu wehren über sich ergehen lässt, jedoch ohne Aussicht darauf, ihre Ursachen ändern zu können. Gefangen in einem System, dessen Regeln er gerade erst zu verstehen beginnt und das er selbst nach fortschreitender Erkenntnis nicht zu seinen Gunsten beeinflussen kann, gleicht er einem kafkaesken Charakter oder einem Woyzeck. Mit der Opferrolle will sich Éloi allerdings keineswegs abfinden. Durch seine furchtlose und unbeugsame Haltung verstrickt er sich aber nur umso tiefer in die Mühlen dieses erbarmungslosen Systems.

Beispielseite aus Eloi

An den Mechanismen, so scheint es, hat sich bis heute nicht viel geändert, auch wenn die angedeuteten Verstrickungen von Politik, Wissenschaft und Kirche anders gelagert sein mögen. Und so trägt Éloi nicht nur zur Ausbildung eines kritischen Geschichtsbewusstseins bei, vielmehr fordert uns der Comic dazu auf, selbst aktiv Position zu beziehen. Dabei geht es vor allem um philosophische Überlegungen zu einem Naturzustand des Menschen, welcher als Vorstufe von Kultur angenommen wird, um gesellschaftliche Herausforderungen, die das Zusammenleben und die Integration betreffen, sowie um Fragen von Schuld und Bestrafung. Interessant sind die Beobachtungen natürlicher Phänomene, die auf der symbolischen Ebene unterschiedliche Deutungen erfahren können, wie es das wiederkehrende Motiv des Hais demonstriert.

Bezieht man den Comic auf den Roman Die Zeitmaschine von H. G. Wells, so erscheinen die erwarteten Verhältnisse plötzlich in einem ganz anderen Licht: Die unterirdisch lebenden Morlocks treten dort als Menschenfresser auf, die sich die Eloi, welche in einer paradiesischen Umgebung unter der Sonne scheinbar sorgenfrei und glücklich leben, als Vieh halten. Ein bissiger Seitenhieb, der die Rollenverteilung zwischen sich selbst als zivilisiert bezeichnenden Europäern und den Wilden umkehrt, allerdings ohne dabei in Éloi in die allzu simple Schwarz-Weiß-Malerei zwischen Opfern und Tätern zu verfallen.

Die Motivation, die Éloi antreibt, und sein persönlicher Hintergrund bleiben in der Geschichte relativ unbestimmt. Als einfacher Fischer mag er der durchschnittliche Repräsentant der neukaledonischen Urbevölkerung sein, als den ihn der Naturforscher Delaunay gerne ansehen möchte. Allein Éloi scheint von Anfang an nur für die Rolle eines Märtyrers bestimmt zu sein, der zunächst vor die Wahl gestellt wird, sich anzupassen oder unterzugehen, denn als Person an und für sich wird er nicht akzeptiert. Der für sich abgeschottete Kosmos des Segelschiffes erlaubt es einem Einzelnen nicht ohne Weiteres, auszusteigen; umso brisanter spitzt sich die Situation an Bord zu. Auch der Schutz durch den Naturforscher Delauney, der Éloi wie ein seltenes Exemplar einer exotischen Pflanze erforschen will, ist zweifelhaft.

Es ist äußerst bewundernswert, wie packend es Locard und Grouazel gelungen ist, auf gerade einmal etwas mehr als 200 Seiten eine derart komplexe Erzählung aufzubauen. Hier zeigen sich die Vorteile des Mediums Comic, denn oft reicht es den Autoren aus, bestimmte Ideen in kurzen Dialogen auszudrücken und darüber hinaus die Bilder für sich sprechen zu lassen. Stellenweise führen sie uns durch die klugen Übergänge auf falsche Fährten. Wenn wir die Andeutungen und Lücken in unserer Vorstellung selbst ausfüllen, stoßen wir dabei im Laufe der Erzählung an Punkte, an denen wir dazu aufgefordert werden, unsere konventionalisierten Sehgewohnheiten und Vorurteile zu hinterfragen. Besonders deutlich wird dies an dem Stereotyp des brutalen Menschenfressers.

Beispielseite aus Eloi

Ein großes Verdienst dieser bittersüßen Südseeballade sind die beindruckenden Illustrationen, deren Dynamik und atmosphärische Tiefe ihnen eine geradezu synästhetische Qualität verleiht. Jede Planke an Bord des Schiffes gibt ihr eigenes knarziges Geräusch ab, man spürt förmlich die Wogen des Meeres und schmeckt die salzige Luft auf der Zunge. Dazu trägt nicht zuletzt die ausgezeichnete Kolorierung in Duoton bei, die jedem Raum und jeder Tageszeit ihre eigene Stimmung verleiht und dabei fast die Grenzen des Bildlichen einreißt. Von der beengten Atmosphäre der in einem düsteren Dunkelblau eingefärbten Kajüten unter Deck bis zu den mit Sonnenstrahlen gefluteten Bereichen über Deck des Segelschiffes. Wir dürfen sehr gespannt sein, welchen Stoff dieses Duo als nächstes bearbeitet.

Ein ebenso bildgewaltiges wie facettenreiches Sittenbild Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert, das die immer gleichen Mechanismen von Rassismus schonungslos offenlegt.

10 von 10 PunktenÉloi
Avant-Verlag, 2015
Text: Younn Locard und Florent Grouazel
Zeichnungen: Florent Grouazel
Übersetzung: Annika Wisniewski
224 Seiten, Hardcover, Duoton
Preis: 29,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-31-6
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