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Die Klingen der Wächter 10

Am Ende des zehnten Teils von Klingen der Wächter schließt sich ein Bogen zu Band 1: Daoma und sein Junge Xiaoqui beginnen, steckbrieflich gesuchte Kriminelle einzuschüchtern, um ihnen Reisegeld abzupressen. Das ist eine Rückkehr zu alten Kopfgeldjägermethoden, ebenso eine Rückkehr zu den Ursprüngen des ersten Teils. Der Ballast der Politik wird abgestreift, wenn auch nur vorrübergehend.

Daoma und seine motley crew. Alle Abbildungen © Chinabooks.

Überhaupt fügen sich in den letzten vorliegenden Kapiteln von Biaoren, wie die Reihe im Original heißt, viele parallele Handlungsstränge zu einem dicht gewobenen, vielschichtigen Erzählteppich. Xu Xianzhe setzt eben nicht nur epische Kämpfe spektakulär in Szene, sondern entwirft darum herum ein komplexes Handlungsgeflecht. Teilweise arbeitet er mit fast schon monströsen, aber doch stets sehr bewusst platzierten Auslassungen, beispielsweise wenn bereits im ersten Teil zwei finstere Verfolger auftreten, deren Hintergrund uns aber erst knapp 1000 Seiten später, im neunten Band, nachgereicht wird. Ebenso ist es mit zahlreichen politischen Entwicklungslinien, die nicht nur parallel zur Haupterzählung stattfinden, sondern – bisweilen auch zeitversetzt in der Vergangenheit – manchmal elliptisch erzählt sind.

Als Leser ist man gut beraten, sich einfach in die Geschichte fallen zu lassen. Jede Parallelhandlung hat ihre eigenen Akteure, die unser Interesse auch dann wecken können, wenn wir den Zusammenhang zum großen Ganzen noch nicht völlig verstehen. Man fühlt sich nie alleine gelassen; man kann sich stets darauf verlassen, dass Xu Xianzhe seinen Lesern zutraut, dass sie ihm gedanklich folgen können, während wir Leser dem Autor vertrauen, dass er das große Ziel nie aus den Augen verliert.

Das erste Lesen von Klingen der Wächter begeistert bereits, das zweite Lesen dann aber belohnt, da man die Zusammenhänge versteht. Aus diesem Grund ist es derzeit reizvoll, hier nicht das fertige Werk zu erwerben, wie es die auf Sicherheit bedachten Käufer von Gesamtausgaben so gerne tun. Viel spannender ist es doch, die Reise mitzugehen, während auch Xu Xianzhe selbst noch nicht völlig am Ziel angekommen ist. Wir haben es hier offensichtlich mit der seltenen Sorte von Autor zu tun, der einerseits weiß, was er tut, sich dann bei der Arbeit aber doch immer noch gerne selbst überrascht. Seit fünf Jahren gehe ich nun diese Reise mit. Hier ist der Weg sich selbst genug.

Für eine Handvoll Geld.

Zur politischen Relevanz der Reihe habe ich bereits früher einiges geschrieben, ebenso wie ja auch von Andreas Platthaus‘ FAZ-Blog das Zitat stammt, „dass in der dortigen Unterhaltungsindustrie“ – gemeint ist die chinesische – „auch ein oppositionelles Potenzial liegen könnte“. Wenn das mal nicht zu viel westliche Projektion ist. Offensichtlich herrscht doch noch viel ungläubiges Staunen darüber, wie klug und politisch vielschichtig der chinesische Manhwa ist. Ich halte die Formulierung für indiskret, denn sie interpretiert Subversion da hinein, wo der Autor lediglich Ambiguität darstellt.

Klingen der Wächter bietet eine kluge Auseinandersetzung über die Verführungskraft und die Abgründe von Macht. Xu Xianzhe reflektiert den Wunsch nach echter Revolution, aber auch den Wunsch der Menschen, dem ewigen Totentanz von Revolution und Gegenrevolution zu entfliehen, zum Beispiel, indem man der Welt entsagt und sich ganz dem Buddhismus zuwendet. Aber selbst dann bleibt der Ruf der Welt verführerisch: Man will eben doch noch Zeit in ihr verbringen, trotz all ihrer Fallstricke, Tücken und Grausamkeiten, all ihrem Wahnsinn und den Widersprüchen.

Klingen der Wächter ist formvollendetes postmodernes Erzählen in dem Sinne, dass alle Lebenslinien und Karrieren unterschiedlichen, teils widerstreitenden, Erzählungen folgen. Manche der Akteure, darunter unser Held Daoma, schreiben sich ihr Leben selbst; wer das nicht kann, wird von anderen geschrieben (programme or be programmed). Anders als bei Neil Gaimans Sandman sind in Biaoren aber nicht alle Erzählungen gleichwertig wahr, sondern gleichwertig wahnsinnig. So ist die größte Frage, ob Xu Xianzhe am Ende ein lebensbejahendes Ende für seine Figuren bereit halten wird. Denn eines ist sicher: Ein promised land wird es in dieser Welt nicht geben.

Natürlich von rechts nach links zu lesen.

Das Attribut des „oppositionellen Potenzials“ mag mir bei Klingen der Wächter nicht ganz einleuchten, ist es doch lediglich eine vielschichtige, vieldeutige Erzählung von enormer erzählerischer Kraft. Ich finde, darin liegt der größere Wert.

Worldbuilding von der Größenordnung eines Sonnensystems

10von10Die Klingen der Wächter 10
Chinabooks, 2022/23
Text und Zeichnungen: Xu Xianzhe
Übersetzung: Johannes Fiederling
ca. 264 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 14,90 Euro
ISBN: 978-3038870128 (Band 6)
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