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Die Klingen der Wächter: Die Unterwelt

Nachdem Xu Xianhe in Die Klingen der Wächter 5 einen episch-ausladenden Storyzyklus mit einem wunderbaren Abschluss enden ließ, legte auch ich eine Lektüre-Pause ein. Aber es wäre ein Fehler, den Fortgang von Biaoren, wie die Reihe im Original heißt, zu ignorieren.

Der kleine Stotterer will eine bessere Welt. © chinabooks

Im dritten Zyklus, „Die Unterwelt“ betitelt, treten neue Akteure auf den Plan, unter anderem der junge Shubao, „kleiner Stotterer“ genannt, der sich in die Welt begibt, um die Hinterhältigen zu bestrafen und das Böse auszumerzen: „Wenn das Böse und das Gute in der Welt so einfach unterscheidbar wären …“, gibt ihm sein Vater als Weisheit mit auf den Weg und lässt den Jungen doch ziehen, ist es doch die Aufgabe jedes jungen Mannes, seine eigenen Erfahrungen zu machen. Auch Akteure des organisierten Verbrechens haben erste Auftritte, hier vor allem in Form eines ominösen Paten mit Namen Yuwen Zhiji, den die Ärmsten und Unterdrückten aufsuchen, wie auch bei bei Mario Puzos Mafia-Klassiker Der Pate aufgesucht wird, wenn Staat und Gesetz nicht in der Lage sind, für Gerechtigkeit zu sorgen. Aber in welcher Verbindung steht der Pate hier zu der organisierten Arbeiterbewegung der Stadt? Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nichts ausformuliert ist, spürt man schon, dass Korruption hier bald ein Thema werden wird.

Zhiji ist dazu noch familiär verbandelt mit der Macht, ist er doch eines der drei Kinder des Generals Yuwen Shu, der in einem phänomenal atmosphärischen Sequenz den Kaiser in seinem Palast aufsucht, weil er eine mächtige Kampfeinheit revitalisieren möchte. Diese Audienz im mobilen Kaiserpalast ist einer von vielen Höhepunkten, bei denen man gar nicht sagen kann, ob die Faszination den dynamischen Zeichnungen geschuldet ist, dem erzählerischen Pacing, das die Audienz erzählerisch geschickt in mehrere sich steigernde Kapitel unterteilt, oder doch lediglich dem Plot selbst, der zu neuen Impulsen findet. Aber natürlich ist es das Wechselspiel dieser Akzente, das Die Klingen der Wächter zu so einem ungemein wirkungsvollen Comic werden lässt. Derlei Sequenzen werden sich auch in den Folgebänden noch reichlich finden, beispielsweise, wenn Daoma und seine Begleiter als gesuchte Verbrecher das Jadetor durchreiten, das die Grenzgebiete vom Einzugsgebiet der Kaiserstadt Chang’An trennt. Das Zerlegen dieses kurzen Wegs in zahllose, mit Suspense aufgeladene Einzelpanels über 80 Seiten hinweg ist ganz großes Kino.

Wer aber ist derzeit eigentlich der „Held“ der Geschichte? Der Gesetzlose Daoma bleibt über lange Strecken eher Beobachter als Akteur, während Revolutionsführer Zishiliang die Reisegruppe in eine Höhle führt, die mit Wandzeichnungen aus früheren Zeiten ausgestaltet ist.  Buddhistische Symbolik scheint darin den Weg von Zhishiliangs Revolution vorzuzeichnen: „Die Revolutionen der Vergangenheit sind alle fehlgeschlagen“, belehrt Zhishiliang seine Begleiter an diesem Ort, „denn man hatte dabei nicht im Sinn, die Gesellschaftsordnung an sich, die Hierarchien auf Erden zu zerschlagen. Der Sturz einer Herrscherdynastie diente nur dazu, eine andere Herrschaftsdynastie zu errichten. Sie bewirkten dadurch nichts außer Kriege und Umverteilungen sowie einen nicht enden wollenden Zyklus.“

Zhishiliang will eine bessere Welt.

Mir ist, als würde ich hier ein Echo von Alan Moores Grundaussage über Anarchie vernehmen, die ich bereits in meiner Rezension für die ersten Ausgaben von Klingen der Wächter zitiert habe:

„Wenn von Anarchie die Rede ist, dann sagen die meisten Menschen, dass sie das für eine schlechte Idee halten, denn Anarchie bedeutet, dass die größte Gang die Macht an sich reißt. Aber genau so sehe ich unsere Gesellschaft. Wir leben in sehr unterentwickelten anarchistischen Umständen, in der die größte Gang am Steuer sitzt und uns erzählt, dass dies keine Anarchie sei.“

Zhishiliang will nicht weniger, als dieses ewige Rad zu durchbrechen, damit endlich Gerechtigkeit herrschen kann. Ob das überhaupt in einem Menschenleben gelingen kann? Es zählt wohl allein die ewige Arbeit daran. Währenddessen kehren auch die Freiheitskämpfer der „bunten Blüten“ zurück, von deren Untergang bereits im zweiten Akt der Klingen der Wächter erzählt wurde; sie sind inzwischen zu einer grausamen Terrorsekte mutiert. Und so dreht das Rad sich immer weiter und Die Klingen der Wächter bleibt die fesselndste und politischste Comicreihe, die ich seit langem gelesen habe. Ein Pageturner.

Die bunten Blüten wollen eine bessere Welt.

Seit 2022 ist der vielseitige Xu Xianzhe übrigens auch bei Tokyopop anzutreffen, wo er als Autor eines Spin-Off des Computerspiels Assassin’s Creed in Erscheinung tritt. Die Zeichnungen von Zhang Xiao weisen durchaus einige Ähnlichkeit mit Xu Xianzhes Stil auf, der Unterschied wird am ehesten in den Actionszenen gewahr, die bei Zhang Xiao nicht ganz so entfesselt sind.

Ebenso ist die Story geradliniger, weniger komplex, dennoch ist schon die erste Storyline „Das Blumenbankett“, idealer Nachschub für alle, die nach der Lektüre von Die Klingen der Wächter nach weiterem Material von Xu Xianzhe gieren. Assassin’s Creed wird hier niemanden enttäuschen.

Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass man auf YouTube seit diesem Jahr eine Anime-Adaption mit dem Titel „Blades of the Guardian“ abrufen kann, die regelmäßig mit neuen Folgen aktualisiert wird. Die mit englischen Untertiteln ausgestattete Reihe hat einigen Reiz, auch wenn die rohe Dynamik der Comicvorlage fehlt. Comic ist eben nicht so einfach zu ersetzen.

 

 

So gut, dass es neue Standards setzt

10von10Die Klingen der Wächter 6 bis 9
Chinabooks, 2022/23
Text und Zeichnungen: Xu Xianhe
Übersetzung: Elisabeth Wolf, ab Band 7 Johannes Fiederling
252–270 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: je 14,90 Euro
ISBN: 978-3038870081 (Band 6)
Leseprobe

 

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