Rezensionen
Kommentare 1

Der verkehrte Himmel

Am Himmel mag so manches verkehrt sein, an der Wirklichkeit umso mehr. Der jüngste Comic von Mikael Ross hingegen ist goldrichtig.

Alle Abbildungen © avant-Verlag

Das Geschwisterpaar Tâm und Dennis tobt auf dem Parkplatz eines Ramschmarktes umher und macht, als Tâm mit ihren neuen Rollschuhen gegen einen Transporter fährt, die Bekanntschaft einer jungen Frau, die darin sitzt, den Wagen aber nicht verlassen kann. Sie hinterlassen ihre Kontaktdaten auf einem Zettel, verkaufen der verzweifelt wirkenden Vietnamesin ein Küchenmesser und können noch nicht ahnen, dass dies der Auslöser einer aufwendigen Verfolgungsjagd werden wird.

Als hätte das Schicksal sich gegen die Geschwister verschworen, fängt es auch noch an zu regnen.

Denn Hoa Binh ist an dem Küchenmesser vor allem deshalb interessiert, weil sie sich damit von dem brutalen Schlepper Boris zu befreien hofft. Sie entkommt ihm wirklich, aber dank des Zettels macht dieser sich daran, die Entlaufene wieder in seine, inzwischen nur noch neun, Finger zu kriegen. Der Adresszettel führt beide nun in das bislang friedvolle Leben von Tâm und ihrem älteren Bruder Dennis. Die beiden führen eine sehr durchschnittliche Geschwisterbeziehung, d.h. sie nervt, während er Metal hört und an Satan zu glauben vorgibt. „Wie geht das überhaupt zusammen: gleichzeitig Satan und Oma anzubeten?“ In dieser Frage Tâms an ihren Bruder steckt viel Weisheit, und ihre Erkenntnis zeigt, wie widerspruchsvoll das Leben nicht nur von Jugendlichen ist, sondern das Leben im Allgemeinen.

Ihre Eltern kamen als Arbeiter in die damalige DDR und bemühen sich seither, ihre Ideale von Fleiß und Sparsamkeit an die jüngere Generation weiterzugeben. Hoa Binh wiederum steht für eine, viel zu euphemistisch formuliert, sehr unfreiwillige Form der Migration, denn sie hat sich mit anderen Erwartungen auf den Weg nach Europa gemacht, um letztlich als ein Gebrauchsobjekt für zahlungskräftige Männer in Deutschland zu landen.

Boris könnte aus einem schlechten Tatort stammen, aber auch er entpuppt sich als Familienvater.

Der Schleuser Boris macht sich auf die Suche nach seiner „Ware“, während Tâm, Dennis und Hoa Binh sich dessen Zugriff zu entziehen versuchen. Das ist so actionreich, wie wir es aus vielen Shōnen-Mangas kennen. Verfolgungsszenen und Kampfsequenzen wechseln sich ab mit tiefen Einblicken in die Wirrnisse sozialer Welten und städtischen Naturszenen.

Der deutsche Zeichner und Autor Mikael Ross hat schon mit seinen vorigen Projekten sein Talent bewiesen: totem (2016), Der Umfall (2018), und die Beethoven-Teilbiographie Der Goldjunge (2020) haben sehr positive Resonanz erfahren. Der verkehrte Himmel orientiert sich zeichnerisch stark am Manga und zeigt, wie vielseitig Ross als Künstler ist. Und auch erzählerisch ist der Comic noch beeindruckender, als die vorigen Erfolge es ohnehin schon waren.

Es gelingt Mikael Ross, sämtlichen Figuren mit großem Respekt zu begegnen und keine Figur als Klischee zu inszenieren. Jede der sehr unterschiedlichen Biographien bekommt genügend Licht und Schatten, um nicht bloß als genretypisches Abziehbild zu erscheinen. Der junge Alex etwa strebt zwar, so deutet es nicht nur das Filmposter in seinem Zimmer an, der James-Bond-Verkörperung von Daniel Craig nach, aber Ross gestaltet dessen Versuche mit herrlicher Ironie – zum Beispiel, als Alex anstatt des klischeehaften Martini eine  Capri-Sonne schlürft. Und auch Jutta, die verblasste Schauspielberühmtheit von nebenan, wird trotz ihres Alkoholproblems und eines Ladendiebstahls weder zur Alltagsheldin stilisiert noch als lächerlich verunglimpft. So ist das Leben manchmal. Diese facettenreichen und achtsamen Figurencharakterisierungen sind ein Teil des Erfolgsrezepts von Der verkehrte Himmel.

Eine Liebesschwurszene, wie man sie aus Comics sonst eher nicht kennt.

Und man darf bei der enormen Dichte gesellschaftlicher Themen nicht vergessen, dass der Comic saukomisch ist. Die knallharte Kampfsportlerin Marina ist in Dennisa verliebt, ist aber mit Worten nicht so flink wie mit ihren Fäusten: „Junge! Bist du hirnamputiert, oder was?! Ich hab dich gefragt: ‚Willst du mit mir gehn?‘ Und du so: ‚Muss überlegen.'“ Der Comic überrascht immer wieder und überlässt uns unseren Vorurteilen, die wir ständig revidieren müssen. Wie ein Deus ex machina wird Marina Dennis später vor Boris retten, und auch der ist kein vom Himmel gefallener Bond-Bösewicht, sondern ein Schurke wie du und ich.

Der Titel stammt aus einem Gedicht der vietnamesischen Dichterin Hồ Xuân Hương: „In trüben Pfützen spiegelt sich der verkehrte Himmel.“ Der himmlische Glanz ist für uns nur greifbar, während wir durch schmutziges Regenwasser waten, aber immerhin ist er doch da. „Der Liebe weites Meer trocknet niemals aus.“ Immer wieder geht es um Himmel und Erde und Hölle, und als Tâm und Hoa Binh sich küssen, tun sie das ausgerechnet an einem Ort, der sie dem Himmel so nah bringt wie niemals zuvor. In einer Baumkrone – und um die Bedeutung dieser Szene zu unterstreichen, färbt Mikael Ross diese Szene rot ein.

Der Comic endet weder mit einem Happy End noch in einer Katastrophe, ist weder Komödie noch Tragödie. Aber nichts an ihm ist verkehrt. Goldrichtig ist alles an ihm.

Goldrichtig

10von10Der verkehrte Himmel
avant-Verlag, 2024
Text und Zeichnungen: Mikael Ross
341 Seiten, schwarz-weiß und selten Farbe, Softcover
Preis: 28,00 Euro
ISBN: 978-3964451088
Leseprobe

1 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken dieses Formulars erklärst du dich mit unserer Datenschutzerklärung einverstanden.