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November 1 – Die Frau auf dem Dach

Wem es draußen gerade zu heiß wird, der sollte zu November greifen. Die Story von Matt Fraction, gezeichnet von Elsa Charretier, handelt von eiskalten Verbrechern, lässt die Gehirne der Leser*innen aber heißlaufen.

Alle Abbildungen © Schreiber und Leser

Es geht in November um die Geschichten dreier einander fremder Frauen, deren Wege sich eines Nachts ganz unvermittelt kreuzen. Als die drogenabhängige Dee den korrupten Polizisten Mann kennenlernt, erschließt sich ihr eine ganz neue und ungewohnt lukrative Einnahmequelle. Sie soll täglich von einem Dach aus einen Code per Funk durchgeben, ohne genau zu wissen, warum sie das eigentlich tut. Und wir wissen es natürlich auch nicht. Dafür soll sie 500 Dollar pro Arbeitstag erhalten, was sie natürlich nicht ablehnen kann. Als sie eines Tages von Polizisten angegriffen wird, setzt sie sich erfolglos mit einem Revolver zur Wehr. Dieser bleibt unbeachtet in einer Gasse liegen. Zunächst.

Wie im Western sitzen Dee und Mister Mann einander stumm gegenüber.

Emma-Rose findet diesen Revolver, als sie auf dem Boden nach den Einkäufen sucht, die durch die zerrissene Papiertüte gefallen sind. Sie informiert sofort die Polizei, aber leider kommen nicht die Freunde und Helfer, die sie erwartet, sondern uniformierte Gewalttäter, die sie im Kofferraum ihres Dienstwagens entführen und dabei nicht den Eindruck erwecken, dass sie das zum ersten Mal täten.

Da ist der Revolver, der die Geschichten miteinander verbindet und Emma-Rose ins Unglück stürzt.

Zuvor hatte Emma-Rose mit der Polizeitelefonistin Kay Kowalski gesprochen und ihr von ihrem Fund berichtet. Kay Kowalski ist auf der Erfolgsleiter nicht sehr weit gekommen, aber sie hat immer noch die Ambition, mehr als nur Telefondienst, sondern ‚echte‘ Polizeiarbeit zu leisten. Als in dieser Nacht mehrere Brände in der Stadt gemeldet wären, vermutet sie einen Zusammenhang, und plötzlich laufen die Fäden der drei Geschichten zusammen.

Was hier so kohärent und plausibel klingt, kommt bei der Lektüre ganz anders daher. Das liegt vor allem an der diskontinuierlichen Erzählweise von Matt Fraction (Sex Criminals). Die zwölf Kapitel folgen zeitlich nicht aufeinander, wie man es erwarten würde: Manche greifen weiter in die Vergangenheit zurück. Andere finden parallel zueinander statt, und erst am Ende erfahren die Leser*innen anhand mancher Details, dass man diese Geschehnisse als zeitgleich verstehen muss. Würde Fraction explizite Zeitangaben bieten, würde die Orientierung leichter fallen, aber so sind die Leser*innen so ratlos wie drei Frauen, die auch keinerlei Überblick über das Elend haben.

Die Kapitel haben einen je eigenen Fokus auf verschiedene Figuren, und so sind wir zeitlich wie räumlich bald einigermaßen durcheinander. Zudem führt Fraction Figuren völlig unvermittelt ein und löst erst nach und nach auf, um wen es sich dabei handelt. Weiter erschwert wird die Lektüre durch Panelsequenzen, die von Szenen unterbrochen werden, die wir (noch) nicht zuordnen können. Rätselhafte Bilder tauchen auf wie Flashbacks und lassen die Leser*innen mit einem großen Fragezeichen zurück. Wer mehr wissen möchte, muss Ermittlungen anstellen, also ein ums andere Mal durch den gesamten Band blättern, um die Puzzleteile zusammenzusetzen.

Durch dieses Verfahren erzeugen Fraction und Charretier das Gefühl, der Auflösung allmählich näherzukommen, ohne bereits den ganzen Zusammenhang ahnen zu können. Mit großem Geschick halten sie den Leser*innen die Karotten vor die Nase, ohne sie sattzumachen. November ist kein Genre-Fastfood.

Der erste Schreiber-und-Leser-Band umfasst die beiden ersten Image-Publikationen („Girl on the roof“, 2019, „The gun in the puddle“, 2020), und der zweite, im Mai 2023 veröffentlichte Band, umfasst die beiden 2020 und 2021 erschienenen Abschlussbände. Es ist einigermaßen irreführend, dass die deutsche Übersetzung den Untertitel des ersten Image-Bandes trägt („Die Frau auf dem Dach“ / „The girl on the roof“), aber tatsächlich die ersten beiden Image-Bände umfasst. Auch äußerlich ist es dem Band nicht anzumerken, weil die amerikanische und deutsche Ausgabe durch verschiedene Einbandstärken den gleichen Umfang zu haben scheinen. Es ist aber eine gute Idee, den Abstand zwischen den Publikationen gering zu halten, um die Leser*innen nicht über ihre Frustrationsgrenze hinaus zu fordern.

Durch das schöne Schattenspiel erscheint es fast, als wäre Emma-Rose umzingelt, und das rote Rücklicht ist so ein Highlight, dass es bedrohlich aussieht. Und die Fahrer des Autos sind tatsächlich bedrohlich …

Die Zeichnungen von Charretier sind ungemein stimmungsvoll und profitieren vom der Kolorierung durch Matt Hollingsworth. Der Comic ist weitgehend düster, wie man es von einem Noir-Krimi erwarten würde, aber Hollingsworth setzt immer wieder Highlights. Durch viele Perspektivenwechsel und abwechslungsreiche Sequenzen erzählt Charretier anspruchsvoll und ansehnlich zugleich. Die erfolgreiche Verrätselungsstrategie geht auch keineswegs nur auf Matt Fractions Konto – die Zeichnungen von Charretier tragen zu der Spannung ungemein bei.

Der zweite und letzte Band ist im Mai 2023 erschienen. Am besten besorgt man sich beide zugleich. Vielleicht erfahren wir dann auch, wie die Story zu ihrem Titel kommt.

Rätselhafter Krimi mit korrupten Polizisten

8von10November 1 – Die Frau auf dem Dach
Schreiber & Leser, 2022
Text, Zeichnungen und Farben: Matt Fraction, Elsa Charretier, Matt Hollingsworth
Übersetzung: Stepahnie Grimm
152 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3-96582-109-5
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