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Der große Indienschwindel

Der große Indienschwindel versteht sich als Fortsetzung des Schelmenromans Das Leben des Abenteurers Don Pablos von Sergovia (in der originalen Printausgabe als Geschichte und Leben des großen Spitzbuben Paul von Segovia erschienen) von Francisco de Quevedo aus dem Jahr 1626. Um den Comic zu verstehen, muss man die Vorlage nicht gelesen haben.

Alle Abbildungen: © Splitter Verlag

Die Hauptfiguren der klassischen Schelmenromane sind meistens in ärmlichen Verhältnissen geboren. Als ambivalente Charaktere durchwandern sie im Laufe vieler Abenteuer alle Gesellschaftsschichten und sollen Bauern wie Adeligen ihre Sünden und Fehler vor Augen halten. Diese „Schelme“ werden meistens als Schwindler, Diebe und Feiglinge dargestellt, die aber als unterhaltsame Ich-Erzähler die Sympathien der Leser*innen gewinnen. Hauptfigur Pablos ist ein solches Schlitzohr. Er ist ein begnadeter Erzähler und Schauspieler, der seine Mitmenschen mit geschickter Silberzunge bezaubert oder sich unterwürfig einschmeichelt. Seine Geschichte beginnt im 17. Jahrhundert, als Gefangener des Militärkommandanten von Cuzco. Ein großer Teil Südamerikas wird vom Vizekönigreich Neuspanien beherrscht und während der spanische Adel die indigene Bevölkerung unterdrückt, wandern einige Spanier aus, um in diesem Teil der Welt doch noch reich zu werden. Pablos gehört zu diesen Glücksrittern. Sein Ziel ist es, mit so wenig Arbeit wie möglich reich zu werden. Vor einiger Zeit hat er sich auf die Suche nach dem legendären Eldorado, der Stadt des Goldes, gemacht und bevor er stirbt, möchte er seine Geschichte erzählen, damit sein Gewissen und seine Seele frei sein können. Oder zieht er sich etwas aus den Fingern, um seinen Hals vor dem jähzornigen Kommandanten zu retten? Das werden die Leser*innen noch herausfinden.

Pablos begeistert ein Publikum mit seiner Lebensgeschichte (Klick für ganze Seite)

Pablos Geschichte beginnt in seiner Kindheit und endet in der Gegenwart. Realität und fantastische Szenen vermischen sich im Laufe der Erzählung immer mehr, sodass sie irgendwann kaum voneinander zu unterscheiden sind. Der große Indienschwindel hält sich damit an ähnliche Schelmenromane wie Der abenteuerliche Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Die fantastischen Elemente haben oft einen allegorischen Charakter und werden als fester Teil der Realität dieser Welt akzeptiert, sodass sie nicht angezweifelt werden. Überhaupt hält sich der Comic zu Beginn eng an die Weltbilder des 17. Jahrhunderts: Der Schelm wird arm geboren, versucht mehr aus seinem Leben zu machen und wird dafür gedemütigt, geschlagen und verlacht. Weil er sich in der von Ständen geprägten Welt zu erheben versucht, bestraft Gott ihn dafür. Das Ganze wird meistens eher humoristisch als tragisch gezeigt, sodass Leser*innen noch was zu lachen haben, selbst wenn Pablos bespuckt wird. Die Welt ist wie sie ist, niemand kann etwas daran ändern. Auch unsere Hauptfigur scheint das am Ende ihres Weges endlich einzusehen. Wäre das der gesamte Inhalt, wäre Der große Indienschwindel nur ein kompetent erzählter und schön gezeichneter Comic, der an einer fatalistischen Weltsicht festhält.

Pablos fliegt von Bord (Klick für ganze Seite)

Autor Alain Ayroles (Mit Mantel und Degen) und Zeichner Juanjo Guarnido (Blacksad) gehen allerdings einen Schritt weiter. Anstatt nur Pablos weitere Untaten zu dokumentieren, zeigen sie auch nach und nach ihre Konsequenzen. Denn abseits von kleineren Schwindeleien hält sich unsere Hauptfigur beispielsweise auch als Zuhälter über Wasser. Er ist also bereit, andere Menschen bewusst auszunutzen, um sein Leben zu verbessern. Mehr als einmal wiederholen sich ähnliche Szenen und aus dem liebenswerten, schelmischen Schwindler wird ein verlogener Dieb. Pablos kennt seit seiner Kindheit nichts anderes als Hunger und Gewalt, da erscheint es fast logisch, dass er andere benutzt, ehe diese ihn misshandeln können. Trotzdem wird im Laufe der Geschichte immer wieder gezeigt, dass sein Leben anders verlaufen könnte, da er auch Güte und Mitgefühl erfährt. Eine Gruppe entflohener Sklaven aus Afrika bietet ihm an, Teil ihrer Gemeinschaft zu werden und ein Häuptling der Inka zeigt sich großzügig. Er könnte sich für ein ärmeres, aber erfülltes Leben als Teil einer Gemeinschaft entscheiden, wählt dann aber doch immer den schnellen Weg. Entweder kann er einfach nicht anders, oder ihm fehlt der Mut für harte Entscheidungen. Immer wieder blitzt auch ein Schimmer aufrichtigen Mitgefühls auf, wenn Pablos zum Beispiel der Verbrennung einiger Mumien auf dem Scheiterhaufen beiwohnt. Aus dem Archetypen des Schelms, der nur an sein Überleben denkt und oftmals ein Spielball höherer Mächte ist, wird ein komplexer Charakter, der bei aller Durchtriebenheit sehr menschlich ist, denn in dieser Welt treten die Starken nach den Schwachen. Damit erfüllt Pablos seine Funktion als Spiegel der Menschen, wenn er sich an die Mächtigen anbiedert und dabei mehr als einmal auf dem Rücken der Unterschicht versucht, nach oben zu kriechen.

Eldorado!

Aufmerksame Leser*innen können Pablos Lügen allerdings schon vorher aufdecken. Es lohnt sich, frühere Panels noch einmal anzuschauen oder überhaupt den ganzen Band erneut zu lesen, was mit neuen Erkenntnissen oder Hinweisen belohnt wird. So taucht zum Beispiel später eine Figur auf, die zuvor in einem anderen Kontext der Geschichte auftrat, wodurch Pablos als Erzähler angezweifelt wird. Wo wir gerade bei menschlichen Figuren sind: Juan Guarnido zeichnet seine Menschen wie gute Cartoonfiguren. Sie sind realistisch genug, um nicht zu stilisiert zu sein, aber auch nicht zu realistisch, um steif zu wirken. Das sieht man vor allem im Vergleich zwischen Pablos und der später auftauchenden Figur Don Diego. Pablos Gesicht wirkt übertrieben aktiv, selbst wenn er nur staunt – er erinnert dabei mehr an eine Zeichentrickfigur, die immer in Bewegung zu sein scheint; Don Diego dagegen, mit seinem gestutzten Bart und feinen Gesichtszügen, ähnelt mehr dem idealisierten Porträt eines Edelmannes. Der Kontrast zwischen den beiden Figuren wird also auch stilistisch noch einmal hervorgehoben, um die unterschiedlichen Lebenswelten beider zu verdeutlichen.

Mein persönliches Highlight sind aber die Seiten 66 bis 77, die wortlos von der großen Expedition nach Eldorado erzählen. Ohne zu viel zu verraten sei gesagt, dass Guarnido hier eine mitreißende Mischung aus majestätischen Landschaften, beeindruckenden Bauwerken, spannender Action und tragischen Charaktermomenten zeichnet. Die Bilder wirken wie aus den besten Träumen und Vorstellungen, die man über Abenteuer hat. Vor allem wenn die Figuren von einem gewaltigen Wasserfall überragt werden, der sich im Hintergrund vor ihnen aufbaut, oder sie die Pracht Eldorados erblicken. An dieser Stelle möchte man Pablos Geschichte einfach glauben. Sollte man aber nicht, schließlich würde dieser Gauner einem alles erzählen, um seine Haut zu retten. Erzählerisch wie zeichnerisch ist Der große Indienschwindel also rundum gelungen.

Gewalt und Hunger existieren überall.

Es sollte aber noch mal betont werden, dass der Band wirklich ein Comic für Erwachsene ist. Zwar halten sich die Macher, abseits der Kampfszenen, mit brutaler Gewalt zurück, aber es wird nicht beschönigt, wie Pablos seine Umwelt ausnutzt und Prostitution, Rassismus und brutale Unterdrückung Teil des Alltags waren. Abseits von Pablos‘ Mutter und einer Wirtin, spielen auch Frauen keine große Rolle in der Geschichte, obwohl sie noch mit am meisten vom Unrecht in der Welt betroffen sind. Das passt zwar zur Vorlage und auch zum Ton der Geschichte, aber für moderne Lesegewohnheiten könnte das immer noch veraltet, wenn nicht gar beleidigend aufgefasst werden.

Harald Sachses Übersetzung der deutschen Ausgabe ist lebendig und unterhaltsam zu lesen, Bindung und Druck des Hardcovers sind hervorragend. Das große Sonderformat von 25 x 35 cm bringt die Schönheit der Bilder gerade bei den Darstellungen von Landschaften zur Geltung, könnte für manche Regale aber schon zu groß sein. Ich habe die Gesamtausgabe von Prinz Eisenherz und die Library Edition von Hellboy im Regal stehen und Der große Indienschwindel passte bei mir nicht rein.

Moderner Schelmenroman, der erneutes Lesen belohnt und geschickt die Möglichkeiten des Mediums nutzt.

10von10Der große Indienschwindel
Splitter-Verlag, 2019
Text: Alain Ayroles
Zeichnungen: Juanjo Guarnido
Übersetzung: Harald Sachse
160 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 35,- Euro
ISBN: 978-3-96219-360-7
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